(Ganz wichtig: Dieser Text ist im Januar 2020, also vor Corona, entstanden.)
Ich gebe zu: Es hatte eine Weile gedauert, bis ich mich dazu durchgerungen hatte, am Montagmorgen nicht das Auto zu nehmen, das ja so schön bequem, weil es nur wenige Meter von der Haustür entfernt steht. Ich hatte einen Termin im Tübinger Landgericht. Und ich hatte am Sonntagabend beschlossen, mit dem Zug zu fahren. Das kleine Problem dabei: Der Hauptbahnhof ist nun mal nicht direkt vor unserer Haustür, sondern in der Stadtmitte. Der Bahnhof direkt vor der Haustür hätte Vorteile, aber natürlich auch Nachteile. Wenn ich nur an den Lärm all der an- und abfahrenden Züge denke … Für mich stellte sich im Vorfeld also die Frage: Sollte ich dorthin laufen? Würde rund 20 Minuten dauern. Mit dem Rad etwa 10 Minuten. Aber die Kälte, dachte ich. Und dann noch gute fünf Minuten zusätzlich einberechnen, um die Fahrkarte am Automaten rauszulassen. Erstens weiß man ja nie, ob sich eine lange Schlange vor dem Automaten befindet und außerdem dauert es auch immer ein wenig, bis ich mich durch all die Fragen durchgeklickt habe. Was die da auch immer alles wissen wollen. Wie schön einfach war das doch früher, als ich zum Schalter bin und einfach sagte: „Eine Fahrkarte nach Tübingen bitte.“ Vielleicht sollte ich dann doch lieber mit dem Auto fahren, mit dem ich in 20 Minuten in Tübingen wäre? Aber auch nur, wenn kein Stau sein würde. Ach, ist das alles schwierig.
Egal. Ich wischte alle Bedenken zur Seite und fuhr also am Montagmorgen mit dem Rad zum Bahnhof, stellte es zu den anderen Drahteseln am Bahnsteig 1, kaufte die Fahrkarte und ging zum zweiten Gleis. Unterwegs ereilte mich die Ansage: „Der Zug nach Herrenberg um 8 Uhr 29 hat voraussichtlich fünf Minuten Verspätung.“ Na gut, dachte ich. Es war ja nicht wirklich saumäßig kalt. Ein wenig die Gegend um das Gleis herum mit den Augen erkunden, könnte ja vielleicht ganz neue Erkenntnisse bringen – schließlich bin ich ziemlich selten am Bahnhof. „Der Zug nach Herrenberg um 8 Uhr 29 hat voraussichtlich zehn Minuten Verspätung“, hieß es kurz darauf. Mmmh, dachte ich nur ein ganz klein wenig missmutig. Mein Blick fiel auf eine Horde Tauben, die alle gemeinsam von Gleis 1 starteten, im Formationsflug in die Höhe strebten, um sich nach einer gekonnten Runde wieder am Startplatz niederzulassen. Hätten sie doch gleich sitzenbleiben können, dachte ich. Aber ich bin ja auch keine Taube.
Dann fiel mein Blick auf ein knallrotes riesiges Plakat, das wie so viele andere an der Rückseite eines Parkhauses direkt gegenüber von Gleis 2 angebracht war. „Reutlingen“, stand da ganz oben mitten in dem riesigen Rotbereich. „Zukunft gestalten“, war darunter zu lesen. Und noch größer: „Möglichkeiten entfalten.“ Aha, dachte ich. Werbung für einen Origami-Papierfaltkurs vielleicht? Kaum, denn unter der Schrift war groß und deutlich eine Raumfähre in der Mitte des Plakats abgebildet. Die Informationsstimme ergoss sich erneut über Gleis 2: „Der Zug nach Herrenberg um 8 Uhr 29 hat voraussichtlich fünf Minuten Verspätung. Der Grund dafür stammt aus der vorherigen Fahrt.“ Sehr informativ. Und das Plakat? Was will mir das nun eigentlich mitteilen? Werbung für ein Himmelfahrtkommando? „Machen Sie eine Ausbildung bei uns zum Erzieher, zur Erzieherin oder zur Kinderpflegerin.“ Ah ja. Und die Raumfähre? Die Bedeutung wollte sich mir nicht offenbaren, aber, so dachte ich: Immer noch besser als die üblichen halbnackten Mädels, die ja bei jedweder Werbung zu sehen sind. Egal, ob für Eis, Kaffee, Autos oder bei Spülmittel – immer halbnackte Frauen. Was einem so alles auf- und einfällt, wenn man am Bahnhof auf den Zug wartet. Apropos: „Der Zug nach Herrenberg um 8 Uhr 29 hat voraussichtlich zehn Minuten Verspätung.“ Da war es 8 Uhr 34.
Um 8 Uhr 38 fuhr schließlich der Zug – mit nur neun Minuten Verspätung – in den Reutlinger Bahnhof ein. Wobei der Begriff „Zug“ deutlich übertrieben war. Ein einziger Wagen kam angetuckert. Ob da alle Wartenden reinpassen würden? Es war Studienzeit, dementsprechend sind fast alle Sitzplätze von jungen Studierenden besetzt gewesen. Und alle starrten auf ihr Smartphone. Oh hoppla, doch nicht alle. Zwei hatten tatsächlich Aktenordner auf ihren Schenkeln liegen und lernten offensichtlich. Aktenordner! Wie old-fashioned. Oder sie starrten irgendwie abwesend über den Ordner hinweg. Wie froh bin ich, nicht mehr diesen Lernstress durchleben zu müssen, dachte ich. Immer wieder die Ängste vor den Prüfungen. Schrecklich.
Fast alle Studierende (was für ein blöder Begriff) hatten Stöpsel in den Ohren, die mit ihren Smartphones verbunden waren. Ob sie alle Musik hörten? Oder sich den Lernstoff „ohral“ ins Gehirn pusten ließen? Oder die letzten Sprachnachrichten von Mama, Papa, Oma, Freunden abhörten? Beim abwesenden Eindruck, den die meisten jungen Menschen mit ihrem Gesichtsausdruck vermittelten, schienen sie sich eher zu wünschen, dass der Zug sie wieder direkt ins Bett zurückfahren sollte, anstatt in die Vorlesung oder die Prüfung. An den Stationen auf der Strecke zwischen Reutlingen und Tübingen stiegen jeweils noch ein paar mehr Reisende hinzu, vor dem Ankunftsbahnhof in Tübingen gab es keinen Sitz- und auch keinen Stehplatz mehr, der Wagen schien aus den Fugen zu platzen. Bei der Ankunft in Tübingen sagte die Stimme aus dem Off: „Wir sind mit zehn Minuten Verspätung angekommen.“ Was für eine Wahnsinns-Information. Naja. Zehn Minuten, dachte ich. Geht doch. Oder? Blöd nur, dass die Gerichtsverhandlung auf 9 Uhr terminiert war und ich um 5 vor 9 noch eine Viertelstunde Fußweg zum Landgericht vor mir hatte. Immerhin regnete es nicht. Als ich um 10 nach 9 im Gericht die Treppen hochhechelte, sah ich schon von weitem: Die Tür zum Schwurgerichtssaal stand noch offen. Die Verhandlung hatte also noch nicht begonnen. Womit sich mal wieder bewahrheitete: Beim Landgericht kann man sich auf eins verlassen – dass kein Prozess pünktlich beginnt. Bei der Bahn weiß man das nie so genau: Womöglich kommt so ein Zug ja auch mal pünktlich. Das ist zwar unwahrscheinlich. Aber nicht ausgeschlossen. Und: Solange ich mich mit der Beobachtung meiner Umwelt und meiner Mitmenschen so wunderbar beschäftigen kann – was soll’s? Ich glaube, ich fahre zur nächsten Landgerichtsverhandlung wieder mit dem Zug. Da begegnet einem das pralle – wenn auch etwas verschlafene – Leben.