Rückfahrt
Wir waren schon sehr gespannt auf die Rückfahrt. Gespannt auf die Fähre, die uns von Amrum nach Dagebüll-Mohle bringen würde. Und noch viel mehr gespannt, ob die Zugverbindung von Niebüll bis Hamburg wieder mit so vielen Unterbrechungen ablaufen würde wie auf der Hinfahrt. Aber: Sowohl die Fähre wie auch die Züge kamen allesamt pünktlich und fuhren auch problemlos weiter. Doch dann: Oh, was für ein Chaos. Wir sitzen jetzt im Hamburger Hauptbahnhof im ICE 273 nach Basel, Abfahrt 17 Uhr 31. Eigentlich müssten wir im ICE 773 nach Basel sitzen. Abfahrt 17 Uhr 24. Ein und derselbe Zug wurde auf Gleis 13 und 14 angezeigt. Verwirrung pur. Ich fragte einen Schaffner auf dem Bahnsteig, der sagte, der ICE 273 sei der richtige. Ich sagte, was ist mit dem 773? Er sagte: „Der fährt nicht.“ Ich: „Warum?“ „Wegen Baustelle.“ Jetzt hoffen wir, dass wir im richtigen Zug sitzen. Unsere Reservierung war damit natürlich auch wieder hinfällig. Genauso wie beim IC 2315 von Niebüll nach Hamburg. „Die Wagen sind nicht wie bestellt gekommen, damit entfällt die Reservierung, setzen Sie sich bitte auf die freien Plätze“, hieß es in der Durchsage. Glücklicherweise gab es freie Plätze.
In dem IC saß ein großer, stämmiger Mann, ganz in schwarz gekleidet. Der war offensichtlich hundemüde. Er saß in Niebüll schon im Zug, kam also wohl von Westerland, also von Sylt. Hat er da durchgefeiert? Oder hat er in der Gastronomie bedient? Obwohl. Er wirkte nicht wie jemand, der irgendwo bedienen würde. Sah eher etwas behäbig aus. Groß und schwer und unbeholfen und etwas ungepflegt. Kann so jemand bedienen? Also doch durchgefeiert? Vielleicht ein IT-Spezialist, der zusammen mit seinen Kumpels in Kampen eine Nacht durchgesoffen hat? Aber: Saufen IT-Spezialisten überhaupt? Oder ziehen die sich eher Linien Kokain durch die Nase? Keine Ahnung. Sind wahrscheinlich sowieso alles Vorurteile. Auf jeden Fall stand vor seinem Abteil Wasser auf dem Boden. „Partywagen“, fragte eine Frau. Wir setzten uns trotzdem dort hinein. Und der Typ schlief und schlief und schlief. Das Fenster war bis zum Anschlag geöffnet und sein Kopf wurde immer wieder von der Gardine eingewickelt. Ohne dass er es merkte. Sah zum Brüllen aus.
Als wir in Hamburg ankamen, hatten wir beschlossen, einen Kaffee trinken zu gehen. In einem Selbstbedienungs-Café holten wir uns zwei Milchkaffee, eine ältere Frau neben uns versuchte auf einen der Hocker zu steigen, rechnete genauso wenig wie ich zuvor damit, dass der Hocker schwenkbar war – das Ding rutschte ihr weg, sie fiel hin und schlug sich den Kopf an einem eisernen Eck des Nachbartisches an. Die Frau lag am Boden, hielt sich den Kopf und jammerte. Bine und zwei, drei oder auch vier junge Frauen waren sofort zur Stelle, fragten besorgt, wie und ob sie helfen könnten. Gemeinsam stellten wir sie wieder auf die Füße, allerdings blutete sie leicht am Hinterkopf. Es kam ein Aufsichtsmensch vom Bahnhof, der besorgte Eis, eine Frau, offensichtlich eine Verkäuferin von dem Bäcker, sagte, sie habe den Notarzt gerufen.
Dieses Erlebnis war für mich doch sehr erstaunlich und zwar, weil so schnell Hilfe da war. Weil so viele Menschen sich sofort kümmerten. Keine Spur von Rücksichtslosigkeit, von „geht mich nichts an“, von „sollen sich doch die anderen kümmern“ und von wegschauen. Mal wieder ein Wunder, dass es vor allem Frauen waren, die spontan zur Hilfe kamen? Zumeist junge Frauen? Das begeistert und freut mich außerordentlich. Natürlich hätten durchaus auch ein paar Männer helfend eingreifen können, aber ich hätte im Vorfeld nicht gedacht, dass an einem riesigen, internationalen Bahnhof in Deutschland so viele Menschen sogleich helfen wollten. Das ist schön.
Weniger schön war die Entwicklung mit unserem Zug: Wie Bine soeben nachgesehen hatte, fährt dieser Zug hier nach Basel gar nicht über Stuttgart. Und wie die Durchsage geradeeben mitteilte, kommt der Zug wegen einer Baustelle zwischen Kassel und Fulda eine Stunde später in Frankfurt an. Was für uns heißt: Erstens müssen wir nochmal umsteigen. Und zweitens kriegen wir voraussichtlich nicht den Zug in Stuttgart um 23 Uhr 22 nach Reutlingen. Wir sind gespannt, ob dann überhaupt noch ein Zug an die Achalm fahren will. Au weia.
Habe gerade im Internet nachgesehen: Wenn wir in Frankfurt umsteigen, sind wir um 0 Uhr 50 in Stuttgart. Zwei Minuten zuvor würde der letzte Zug nach Reutlingen fahren. 0 Uhr 48. Der nächste ginge dann um 2 Uhr 05. Der wäre allerdings erst um 4 Uhr 29 in Reutlingen. Weil wir dann nämlich die S-Bahn nach Herrenberg nehmen müssten, von dort mit dem Zug nach Tübingen und dann mit dem Bus nach Reutlingen. 2,5 Stunden Fahrzeit. Andere Möglichkeit: In Karlsruhe umsteigen. Dort müssten wir allerdings den Zug um 23 Uhr 21 kriegen. Dann wären wir mit viel Glück um 0 Uhr 40 in Stuttgart, würden den 0 Uhr 48er kriegen und wären dann um kurz nach halb 2 in Reutlingen. Wie hatte Lothar Matthäus vor kurzem noch so treffend gesagt: „Wäre, wäre, Fahrradkette.“ Wir müssen uns wohl auf eine lange Nacht einstellen. Und dann vielleicht irgendwann in den frühen Morgenstunden an der Achalm den Sonnenaufgang begrüßen. Oder das nächste Gewitter, das da durchzieht. Dabei bin ich jetzt schon ziemlich müde.
Vor ein paar Minuten war ein Schaffner da. Der hat gewaltig vom Leder gezogen. Auf seinen Arbeitgeber geschimpft. Gestern sei er mit dem Zug in Hessen stehengeblieben. Wegen der schweren Gewitter. „Stromausfall“, sagte er. Anstatt um 23 Uhr 15 sei er um halb 6 in Karlsruhe gewesen. Und heute? Hauptsache wir kommen an, sagte er. Sollten wir aber den 23 Uhr 21-Zug in Karlsruhe nicht erwischen – und im Moment sieht es ganz schwer danach aus, dann ist es Essig mit der Verbindung nach Stuttgart. Dann müssen wir vielleicht tatsächlich in Karlsruhe übernachten. Tolle Aussicht. „Personalmangel und Zügemangel“, sagte der Schaffner. Aber er habe ja nur noch 102 Tage, dann gehe er in Rente. Dann ziehe er dorthin zurück, wo er herkomme. Nach McPom, Schweriner Gegend. In Bautzen sei er eingesessen, „Staatsfeind Nr. 2 war ich“. Drei schwarzbemantelte Typen hätten ihn abgeholt. Mit den Makarow über dem Mantel. „Ich hatte Glück, ich wurde freigekauft“, sagte der Mann. Interessant, so viel über sein Leben zu erfahren. Auch interessant, wie freigiebig er über die Deutsche Bahn schimpfte. Allerdings extrem ärgerlich für alle Passagiere, die hier nach der Meinung des Schaffners „gnadenlos verarscht werden“. Zu dem Personalmangel und zu den fehlenden Zügen kommen nämlich nun noch auf allen Strecken Baustellen hinzu. „Informieren Sie sich das nächste Mal spätestens einen Tag vor Ihrer Reise, ob Ihr Zug überhaupt fährt“, riet der Schaffner uns allen – drei jungen Frauen, Bine und mir. Zugausfälle würden nämlich künftig immer vorkommen. So wie bei den Fliegern. Eine der jungen Frauen berichtete dann, dass sie eigentlich von Hamburg nach Frankfurt fliegen wollte. „Dann ging am Hamburger Flughafen aber gar nichts mehr, so wie vergangene Woche.“ Da war ja wegen Stromausfall alles ausgefallen. Dieses Mal seien hingegen die Unwetter im hessischen Raum der Grund für die Ausfälle gewesen. Was für ein Desaster.
„Signalstörung. Umleitung. Ankunft in Mannheim jetzt 30 Minuten später.“ Mann. Was für ein Mist. Eine Weile hatten wir ja wirklich die Hoffnung, dass wir den Zug Abfahrt 23 Uhr 21 in Karlsruhe noch erwischen – und dann diese Nachricht. Niederschmetternd. Mann, Mann, Mann. Heute ist wieder was los. Jetzt bleibt uns wohl tatsächlich nichts anderes als entweder in Karlsruhe in ein Hotel zu gehen oder … ja, oder: Wir sind kurzerhand in Mannheim ausgestiegen, weil uns das Internet die Möglichkeit offenbarte, von dort aus nach Heidelberg mit der S-Bahn zu fahren und dann nach Stuttgart mit einem anderen ICE. Wir haben das geschafft, der ICE soll um 0 Uhr 50 in der Landeshauptstadt sein. Wenn nun eine Signalstörung dazu diente, dass unser Zug nach Reutlingen, der eigentlich um 0 Uhr 48 losfahren würde, erst mit fünf Minuten Verspätung loskäme – dann hätten wir doch noch eine Chance. Sonst Taxi. Oder im Hotel in Stuttgart übernachten? Mann, bin ich froh, wenn wir irgendwann zuhause sind.
Ein Gutes hatte der Ausflug von Mannheim nach Heidelberg allerdings, zumindest eine Erkenntnis: Wir hätten ja nie im Leben gedacht, dass die beiden Städte quasi Nachbarn sind. Nur 17 Minuten von Mannheim Hbf nach Heidelberg Hbf. Verrückt. Dass Mannheim und Ludwigshafen direkt aneinander angrenzen, wusste ich ja. Einzig in der S-Bahn war uns ein wenig mulmig, weil wir ja kein zusätzliches Ticket gelöst hatten. Wäre ja auch noch schöner gewesen.
Sonntag, 17 Uhr 30: Seit heute Nacht um kurz vor 2 Uhr sind wir zuhause. Wie wir das geschafft haben? Mit dem ICE von Heidelberg nach Stuttgart, dort stand der Zug nach Reutlingen sogar noch auf der Anzeigetafel, allerdings war nichts mehr von ihm zu sehen. Also sind wir zur DB Info – da war aber kein Mensch. Wir suchten nach weiteren Möglichkeiten, uns irgendwie bemerkbar zu machen, sahen schließlich einen Schaffner, der uns konsequent missachten wollte. Offensichtlich hatte der auch nichts anderes im Sinn, als so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Obwohl er geradezu brachial seinen Blick in die uns abgewandte Richtung hielt, hatte er keine Chance. Ich fragte ihn, an wen wir uns wenden sollten, er meinte, an die DB Info, die habe die ganze Nacht geöffnet. Von wegen, sagte ich. Da ist niemand. Wir blickten in die angegebene Richtung – und da war nun doch jemand. Wir also hin, dort wurde uns gesagt, dass wir zusammen mit einem weiteren Reutlinger im Taxi nach Hause gefahren würden. Auf Kosten der Bahn. Immerhin. Alles andere wäre auch eine unverfrorene Unverschämtheit gewesen. Ich habe mich so schon tierisch aufgeregt. Was ist das für ein Service, wenn offensichtlich ständig Züge ausfallen, Umleitungen fahren müssen, vermeintlich Signale gestört sind und einiges andere auch noch überhaupt nicht zusammenpasst. Da kann man wirklich niemand das Bahnfahren empfehlen. Obwohl ich – wenn alles funktionieren würde – ein absoluter Verfechter des Bahnfahrens wäre. Aber so? Da muss man ja potenziellen Kunden abraten. Oder aber bei der nächsten Zugfahrt nach Amrum und zurück hoffen, dass dann alles viel, viel besser ist. Und so problemlos funktioniert, wie wir das ja tatsächlich auch schon erlebt haben. Wir werden sehen. Beim nächsten Mal.