Endlich Amrum – 6 Alles hat ein Ende

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Urlaubsende

Ach ja. Heute ist der letzte Urlaubstag. Das Wetter hat sich unserer Stimmung angepasst, Wolken sind aufgezogen, alles wirkt ein wenig trübselig. Oder liegt das nur an uns? Einmal mehr sind wir heute um die Nordspitze herumgelaufen, so Ebbe wie heute war es aber die ganzen zwei letzten Wochen noch nicht gewesen. Obwohl wir fast immer bei Ebbe am Strand entlanggelaufen sind. Nur heute war ganz extrem Ebbe. Also gar kein Wasser zu sehen. Zumindest auf der Wattseite. Als habe das jemand abgesaugt. Oder abgelassen. Den Stöpsel rausgezogen. Dabei hatten wir schon die vorhergegangenen Tage die Erfahrung gemacht, dass bei Ebbe das Meer ziemlich stinkt, an vielen Stellen mehr einer Güllebrühe ähnelt, denn dem herrlich klaren, blauen Meer, das wir eigentlich gewohnt waren. Braun und ziemlich eklig. Und alles andere als zum Baden einladend. Wobei wir eh nicht die Badenixen beziehungsweise der Bade… (gibt es eine männliche Form der Nixe???). Vorgestern und gestern, da war alles anders. Da sind wir bei hereinkommender Flut gelaufen – und plötzlich war gar nichts mehr mit brauner Brühe. Glasklar präsentierte sich das Meer an den meisten Stellen. Einzig unterbrochen von manchen Passagen, an denen sich dann mal grüner Tang an den Strand hingelegt hatte. Gerade so, also wollte der sich dort sonnen.

Gestern hatten wir uns einem Gewaltmarsch hingegeben – die Strecke zwischen Norddorf und Nebel am Strand entlang – mal zwei. Wir sind also zum Strandpiraten am Meeressaum entlang hingelaufen und nach der schwer verdienten Currywurst auch wieder zurück. Alles barfuß. Alles auf zumeist knallhartem Strandboden. „Tun dir die Füße auch weh“, fragte ich jammernd auf dem Rückweg. „Oh ja“, antwortete Sabine. Was für ein Glück. Wie wehleidig wäre ich dagestanden, wenn sie „Nein“ gesagt hätte? Luka hätte wahrscheinlich wieder gesagt, er habe keinerlei Probleme, ihm tue nichts weh. Wahrscheinlicher aber wäre er eh mit dem Bus zurückgefahren. Oder gleich mit dem Fahrrad hin und zurück. Aber Luka geht ja schon wieder eine volle Woche in Reutlingen in die Schule. „Du brauchst nicht jeden Tag anzurufen“, hatte er gleich vergangenen Montagabend gesagt. Bine war etwas … enttäuscht? Verwirrt? Besorgt? Wahrscheinlich eine Mischung aus allem. Der Bub wird erwachsen. Und er löst sich immer mehr von Muttern und Vatern. Gottseidank. So sehe ich das, als Patchwork-Papa. Wobei ich mich selbst nie so bezeichnen würde. Glücklicherweise. Denn sonst würde mir Luka wahrscheinlich auch was husten. Oder mir meine Grenzen aufzeigen. Oder was auch immer.

Am Strand auf dem Rückweg war das Wasser dann nicht mehr ganz so braun und brackig wie beim Hinweg. Streckenweise schon noch, aber mittendrin dann ein Kaltwasserstrom, eine schmale Stelle, die mit kühlerem Wasser aufwartete und dazu auch noch herrlich klar war. Seltsam. Wir fragten uns, wie so was zustande kommt. Eine Antwort fanden wir allerdings nicht. Oder doch? Zumindest ansatzweise, auf der Homepage „schutzstation-wattenmeer.de“ ist zu der Frage „Warum ist die Nordsee meist grün oder grau?“ nachzulesen: „Der Nährstoffreichtum der Nordsee erlaubt ein reiches Planktonwachstum.“ Und weiter heißt es: „Außerdem wirbeln Stürme oft Schwebstoffe aus den Küstengewässern auf, die das Nordseewasser trüb braun oder grün färben. Spiegelt sich mal der blaue Himmel darin, so sieht man eine Farbmischung aus Plankton-Grün, Schlick-Braun und Himmelblau.“ Die nachfolgenden Informationen hätten wir eigentlich lieber nicht erfahren: „Das Einzugsgebiet der Flüsse, die in die Nordsee münden, reicht von Tschechien bis Südengland und von der Schweiz bis Norwegen. Die Abwässer von etwa 200 Millionen Europäern fließen – mehr oder weniger gereinigt – in das Meer vor unserer Haustür. Auch Prag und Paris liegen an der Nordsee!“ Na dann. Vielleicht verbringen wir unseren nächsten Urlaub dann doch nicht mehr an der Nordsee. Oder?

Eine andere Frage beschäftigte uns zunächst aber noch auf dem Rückweg: Wie weit mag es von Amrum bis Sylt sein? Schließlich kann man den Leuchtturm von Hörnum sehr genau sehen. Und bei Ebbe scheint es fast so zu sein, als ob man von der Nordspitze von Amrum hinüber laufen könnte. Ich fragte also Sabine, was sie schätzen würde. Ich sagte: „Fünf Kilometer.“ Als sie mit stolzen „50 Kilometer“ aufwartete, wurde ich unsicher. Ich sagte: „Maximal zehn Kilometer.“ Okay, vielleicht auch zwölf, „aber keinesfalls mehr“. Oder doch? Ich bin im Normalfall sehr schlecht im Schätzen. Bei größeren Veranstaltungen wie am 1. Mai auf dem Reutlinger Marktplatz frage ich deshalb schon immer die Gewerkschaften. Und schreibe dann, „nach Auskunft der Veranstalter“ seien soundsoviel hundert oder tausend Besucher da gewesen. Entfernungen kann ich auch nicht schätzen. Aber wenn kein Veranstalter da ist, den man fragen kann? „40 Kilometer“, sagt Sabine unvermittelt. „Mindestens 30.“ Sie blieb bei 30. Ich bei maximal zwölf. Gerade eben habe ich im Internet nachgesehen. Zwischen Nebel auf Amrum und Hörnum auf Sylt sind es per Luftlinie genau 12,54 Kilometer. Ach. Was für eine Wohltat. Von der Position aus, wo wir gestern nach Sylt geschaut haben, waren es dann also etwa acht Kilometer. Also ziemlich genau zwischen fünf und zehn. So wie ich anfangs geschätzt hatte. Ach, tat das gut. Ausgerechnet ich, der so unglaublich schlecht schätzen kann, lag endlich mal einigermaßen gut. Sabine gestand ihre Niederlage mit Fassung ein, „ich kann halt ganz schlecht schätzen“, sagte sie. Hätte ich auch gesagt. Aber sie hatte mich immerhin enorm verunsichert.

Im Radio, auf SWR 3 (ich trau mich ja kaum, das zuzugeben, dass wir im Urlaub, also trotz des Verweilens im hohen Norden, in Schleswig-Holstein, unseren Haussender hören – das ist ja fast so, wie Schnitzel oder deutsches Bier in Spanien zu konsumieren) – also auf SWR 3 hörten wir den Bierdeckel-Spruch (wie passend) zum Abend: „Wenn alle Männer gleich sind, warum sind Frauen dann so wählerisch?“

Heute sind wir also zum letzten Mal um die Nordspitze herum gelaufen. Einmal mehr Watt. Einmal mehr hunderte, hunderttausende Wattwürmer mit ihren kleinen Kringelhaufen vor ihrer Haustür auf dem Meeresboden. Einmal mehr Barfuß-Gestakse durch den Muschel-übersäten Sand, wie die Störche durch den Salat gewackelt. Einmal mehr den Blick schweifen lassen, das Gefühl des Verloren-seins in endloser Weite erleben. Gegenüber dem 15-Kilometer-Lauf von gestern waren die rund fünf Kilometer heute, ein regelrechter Klacks. Einmal mehr fuhren wir dann mit dem Rad in Norddorfs Ortsmitte, gönnten uns ein Rhabarber-Eis. Und zwar eines mit einem so unglaublichen Schmelz, den wir zuvor, vor allem mit Rhabarbergeschmack, noch nie genießen konnten. Wir saßen auf einer Bank in der Nähe des Eiscafés, ließen uns das Eis schmecken, betrachteten derweil interessiert die anderen Touristen. Viele Mütter mit kleinen Kindern. Kein Wunder, die Mutter-und-Kind-Kurhäuser der AOK sind nur einen Steinwurf entfernt. Unglaublich viele dicke Frauen waren da zu sehen. Richtig dicke Frauen. Also noch viel dicker, als wir selbst uns dort auf der Bank präsentierten.

Wir fuhren mit dem Rad zurück zum Fahrrad-Verleih, gaben die Zweiräder zurück. Was unsere Wehmut noch ein wenig verstärkte. Morgen früh um 10 Uhr müssen wir aus der Wohnung raus. „Die Nächsten kommen um 12“, sagte die Vermieterin. Unsere Fähre geht um 12 Uhr 05. Der Bus fährt um 11 Uhr 30. Dann müssen wir uns die Zeit noch ein wenig vertreiben. Vielleicht einen Bus früher fahren. Weil der um halb zwölf mit Sicherheit wieder rappelvoll ist. Wir werden sehen. Ob unsere Wehmut sich bis morgen Vormittag noch weiter steigert? So ein ganz klein wenig freuen wir uns ja auch wieder auf Reutlingen. Auf Luka. Auf Arbeit. Auf Alltag. Denn: Hätten wir nur noch Urlaub, wie sollten wir solche Tage wie auf Amrum dann noch als Ausnahme genießen können?

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