Neulich nach einer kurzen Nacht ist mir was ganz Schreckliches passiert – als ich mich morgens rasieren wollte und in den Spiegel schaute, da sah ich … nichts. Mein Spiegelbild war weg. Ich eilte zu Bine. Sie lachte, sagte „du spinnst – ich seh dich doch“. Sie machte ein Foto von mir. Und wir sahen nichts. Also nichts von mir. Dann dachte Bine nach. Bis es rauchte. „Ich habe mal gehört, dass in der Nähe der Ruine Reußenstein eine ganz besondere Frucht wachsen soll – die könnte helfen“, sagte sie schließlich. Gesagt, getan. Wir fuhren los, kamen in Neidlingen an, einem kleinen Dorf in der Nähe von Kirchheim / Teck. Und tatsächlich waren wir nur wenige hundert Meter gelaufen, als wir die Ruine erblickten. Hoffnungsvoll machten wir uns auf den Weg – auf diesem Foto bin ich links neben Bine. Aber eben nicht zu sehen. Schnell ging es steil bergauf, Bine überredete mich, noch kurz ein rituelles Bad zu nehmen und dann standen wir plötzlich vor diesem Schild. Macht ja nichts, dachten wir, es gibt noch andere Wege zum Ziel. Doch auch bei der nächsten Abzweigung ein ähnliches Schild. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun, so kurz vor dem Ziel sollte mir die Erlösung verwehrt werden? Nach dem nächsten Warnschild liefen wir einfach querfeldein und dann sahen wir plötzlich eine Pilgergruppe, die offensichtlich das gleiche Ziel gehabt hatte wie wir. Wir fragten nach. Ja, sagten die Pilgerinnen und Pilger. – „Da drüben ist der Baum der Erkenntnis, der Baum des verlorenen Spiegelbilds.“ Bine schnitt eine Frucht in Scheiben und reichte mir ein Stück, „du musst sie essen wie eine Oblate“, sagte sie. Ich tat wie befohlen, sie machte sofort ein Foto von mir und wir sahen dieses Bild. Erschrocken blickten wir beide auf Bines Smartphone-Display und ... urplötzlich war meine gewohnte Silhouette wieder zu sehen. Eine grandiose Freude ergriff mich: Ich war wieder da. Ganz und gar. Mit Spiegelbild und allem Drumherum. Ich, Nobbi, der Strahlende, der Nachdenkliche, der Beleuchtete, der Wissende, der Ahnungslose, der Skeptische und der Nette. Ach, wie schön ist doch die Welt, dachten Bine und ich. Wir fuhren nach Hause und freuten uns über einen weiteren ereignisreichen und wahrlich unglaublichen Tag. Das verlorene Spiegelbild 0 By Norbert Leister on 6. Oktober 2020 Bildergeschichten Share. Twitter Facebook Pinterest LinkedIn Tumblr Email