Damit man niemals mehr vergisst

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Theater „Tonne“ inszeniert am Freitag, 2. Oktober, auf dem Reutlinger Marktplatz das an- und aufrührende Straßentheaterstück „Hierbleiben … Spuren nach Grafeneck“

 Eigentlich war alles ein Stückweit anders geplant. Straßentheater sollte es sein. Doch mit den Abstandsregeln wegen Corona wurde es ein annähernd „normales“ Theaterstück. Obwohl. Was ist schon normal, wenn behinderte Menschen aus der Theatertruppe der Reutlinger „Tonne“ ein Stück aufführen, das sich um die Ermordung von 10 654 behinderten Menschen dreht. „Als ich das erste Mal in Grafeneck war, habe ich den großen Ernst des Vortrags dort nicht mehr ausgehalten, ich dachte: Wenn ich damals gelebt hätte, wäre ich wohl umgebracht worden“, sagte jemand aus der Schauspieltruppe. Nach und nach trugen sie ihre Gedanken vor, als sie begannen, sich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. „Ich habe mich um Geräusche gekümmert, um die Vögel, den Wind und eine Regenrinne – als ich das Wasserplätschern hörte, dachte ich an eine Dusche, da ist es mir eiskalt den Rücken runtergelaufen.“

Irreal erschien am Freitagvormittag die Szenerie auf dem Reutlinger Marktplatz, als die rund zwölf Schauspielerinnen und Schauspieler vor dem Riesenrad auf dem abgesteckten Theaterspielfeld scheinbar unkoordiniert durcheinanderliefen und als dann Rufe erschallten: „Sicherheit. Angst. Trauer. Kälte. Respekt, Boxer, Scheuklappen. Hand aufs Herz. Schlafen. Sicherheit.“ Und dann immer wieder „Respekt“. Das Team um Regisseur Enrico Urbanek inszenierte mit einigen Tanzszenen, mit Rufen ein bedrückendes und erschreckendes Szenario, wie es sich damals 1940 in Grafeneck hätte abspielen können.

„Name, Krankheit, Rasse“, erschallte ein fordernder Befehl. „Sauerstoffmangel bei der Geburt, deutsch“, rief jemand. „Schwierigkeiten bei Mathe, polnisch.“ „Tetraspastik, deutsch.“ „Dummheit, unbekannt.“ „Schizoaffektive Psychose, deutsch.“ „Wutausbrüche, Jüdin.“ Gereimt sprachen die Schauspieler anschließend: „Damit man niemals mehr vergisst, was hier in Grafeneck geschehen ist.“ Und: „Nazis an der Macht haben Menschen einfach umgebracht – sie wurden ins Gas geschickt, sie sind dort allesamt erstickt. Auf dass so was nie mehr geschieht, ziehen wir hier durch das Gebiet.“ 25 Kommunen wird das Reutlinger Theater insgesamt aufsuchen und dieses unglaubliche Stück aufführen. „In drei Städten waren wir schon, in Kehl war eine Schulklasse da und viel Laufpublikum blieb stehen“, berichtete Dramaturgin Karen Schulze. In Reutlingen sind um die 70 Stühle für das Publikum aufgestellt worden, doch jede Menge Passanten schauten ebenfalls zu.

Spielerisch, fast schon spaßig, erschienen Szenen, als die Schauspielerinnen ein aus zwei Seilen geformte Hakenkreuz veralberten. Oder als Jahrmarktrummel auftauchte, mit einer Seiltänzerin, einer Hulahup-Reifenkünstlerin. Doch so einfallsreich die Figuren waren, so eindeutig und bedrückend die Botschaft dahinter: Ein weißer Engel erschien ebenso wie Fantasiefiguren, ein Stier etwa mit einer Halskrause auf der „Volk“ geschrieben stand, um den Bauch dann ein weißer Ring, auf dem war „Volksschädling“ zu lesen. Unglaublich bedrückend, erschütternd und zu Tränen reizten Szenen, als etwa die Namen der Schauspieler aufgerufen wurden und sie nach und nach ins Gas gingen. „Willkommen in Grafeneck, bitte ziehen Sie sich aus und gehen zum Duschen.“ Eine kurze Erläuterung über Kohlenmonoxid folgte, ein Gas, das wohl aus Metallfässern in die Gaskammern geleitet wurde. Die Schauspieler haben während dieser Szene immer wieder mit einem metallischen Knirschen die Fässer über den Asphalt gerollt. Ein Geräusch, das durch Mark und Bein ging.

Erschreckend waren auch die Tablets, die alle Schauspieler vor dem Bauch hatten: Zunächst war ihr eigenes Bild darauf zu sehen, dann Feuer. Feuer, in dem sie verbrannt wurden. Und der Standesbeamte verschickte anschließend handgetippte vorgefertigte Formulare: „Zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr … unerwartet am …  in Folge von … verstorben ist.“ Die Reaktion der Angehörigen? „Grafeneck? Nie gehört. Ich versteh das nicht. Das kann doch nicht sein“, kamen Stimmen aus dem Off. Dann erklang Musik. Lustige Musik. Schmählicher Text. „Grafeneck bleibt selbst im Dunkeln ein schwarzer Fleck.“

Und die Täter? Dr. Horst Schumann war der ärztliche Leiter von Grafeneck im Jahr 1940, er hat das Euthanasieprogramm mit aufgebaut. „Ich war verhandlungsunfähig, weil ich an Bluthochdruck litt“, sagte der Arzt bei einer nachgespielten Gerichtsverhandlung. „Ich fühle mich nicht schuldig, habe nichts Schlimmes getan.“ Nach Grafeneck ging Schumann in weitere Tötungsanstalten wie in Pirna und auch nach Auschwitz. Andere Täter in Grafeneck waren jung, „zu jung“, wie eine Schreibkraft berichtete, die Namen der Getöteten und erfundene Todesursachen erfasste. „Auch aus Reutlingen wurden damals 62 Menschen aus Rappertshofen abgeholt, danach noch einmal elf.“ Zum Abschluss dieser für die Schauspieler und Zuschauer unglaublich bewegenden Vorstellung druckte Jochen Meyder zusammen mit den Tonne-Schauspielern Holzdrucke mit Menschenköpfen und dem Wort „Miteinander“ darunter. Die Zuschauer, die solch ein Bild erhielten waren offensichtlich tief bewegt. Ebenso wie eine Vielzahl an Personen aus dem Publikum, denen während des Theaterstücks immer wieder die Tränen in den Augen standen.

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