Reutlinger Caritas und Diakonieverband bieten seit vielen Jahren die „Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer“ an. Eine Familie aus der Türkei berichtet über ihre Erfahrungen
Im Februar 2019 ist die Familie Anil mit ihren drei Töchtern aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Dervis und Hatice sind beide Mathe-Lehrer, sie haben auch schon vor dem Putsch im Jahr 2016 an einem Privatgymnasium in Ankara gearbeitet. Nach dem Putsch „wurden insgesamt 50 000 Lehrer entlassen“, berichtet Hatice Anil am Donnerstag, als die „Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer“ (MBE) des Diakonieverbands und der Caritas im Kreis Reutlingen zum Pressegespräch geladen hatte. Die Privatschule, die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und ein Konto bei einer Bank – all das reichte aus, um fliehen zu müssen? „Ja“, sagte der Lehrer. Denn alle drei Einrichtungen standen der Gülen-Bewegung nahe, die von Staatslenker Erdogan seit Jahren massiv bekämpft wird. „Wir haben unseren Beruf verloren“, so Dervis Anil. Und dann kam noch ein Gerichtsurteil, das dazu geführt hätte, dass der Lehrer ins Gefängnis geworfen wäre.
Zwei Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland hatte die Familie die Anerkennung als politische Flüchtlinge. Die Familie wohnte in Eningen, hatte dort aber heftige Probleme mit dem Vermieter, wie Anna Schmierer von der Migrationsberatung des Diakonieverbands berichtet. „Der Vermieter hat sich rechtswidrig verhalten, er hat Hatice Anil bedrängt“, so die Sozialarbeiterin. Das Paar Anil habe zwar die Polizei gerufen, die Verständigung funktionierte aber aufgrund der schlechten Deutschkenntnisse nicht richtig. Die Familie versuchte, aus der Wohnung rauszukommen, doch die Ausländerbehörde sagte, dass sie nicht umziehen dürfe – obwohl sie Wohnraum im Reutlinger Hohbuch gefunden hatten. In ihrer Verzweiflung wandte sich das Paar Anil an den Diakonieverband.
Und Anna Schmierer konnte tatsächlich helfen – was aber wiederum gerade in Corona-Zeiten gar nicht so einfach war. Viele Behörden hatten geschlossen oder waren nur telefonisch zu erreichen, wie auch Michaela Polanz und Efthalia Kanakari vom Reutlinger Caritas-Zentrum betonten. Dort wird die MBE schon seit 15 Jahren angeboten, „finanziert wird die Beratung über das Innenministerium des Bundes“, so die Zentrums-Leiterin Polanz. „Bei vielen Migranten hat Corona eine finanzielle Krise ausgelöst, viele wurden arbeitslos und wussten nicht, wie sie ihre Familie ernähren sollten“, so Kanakari. Behörden seien in den ersten Monaten der Pandemie nur telefonisch erreichbar gewesen, viele Migranten kamen „völlig verzweifelt mit Existenzängsten zur Caritas“. Manche Migranten, die ihren Job verloren hatten, standen plötzlich ohne einen Cent da, „sie hatten nichts zu essen“, bestätigte auch Schmierer. „Deshalb war es um so wichtiger, dass wir unserer Türen geöffnet hielten“, so die Migrationsberaterin des Diakonieverbands.
Dem stimmen auch Hatice und Dervis Anil zu: „Beratung ist sehr wichtig.“ Auch für die Familie war das so: Schmierer hatte den Kontakt zum Ausländeramt und zur Polizei gesucht, viele weitere Telefonate geführt, so dass die Anils schließlich umziehen konnten. Und das Paar bemüht sich weiter, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen – „das reicht uns aber nicht“, sagt Dervis Anil. Schon seit September 2019 brachte sich das Paar ehrenamtlich im Pflegeheim in Einingen ein. Und kommende Woche beginnt sich Dervis Anil an der Hohbuchschule ehrenamtlich bei der Hausaufgabenbetreuung und beim Spielen zu engagieren. „Wir haben keine deutschen Freunde, deshalb ist es für uns schwieriger, Deutsch zu lernen.“ Ihr Ziel ist, so schnell wie möglich wieder als Lehrer arbeiten zu können. „Es gibt an der pädagogischen Hochschule in Weingarten die Möglichkeit, einen Anpassungslehrgang zu absolvieren“, so Schmierer. Für die Anils ist das eine Perspektive. In die Türkei kann die Familie nicht zurück, „wir schauen, dass wir hier in Deutschland unsere neue Aufgabe finden“, betont Hatice Anil. „Wir haben in der Türkei gesehen, wie Kinder in einem Fluss ertrinken und wie Mütter mit kleinen Kindern im Gefängnis sind“, sagt sie erschüttert.
INFO:
Beratung bei Familiennachzug
Ein weiteres wichtiges Thema der Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer ist der Familiennachzug, wie Gerd Aigeltinger von der Caritas beschreibt. Der Nachzug von Familienangehörigen ist erst möglich, wenn die Geflüchteten hier in Deutschland anerkannt sind. Und: Die Flüchtlinge hier brauchen ebenso wie die Familienangehörigen „meist einen langen Atem“, so Aigeltinger. Damit seien die Menschen zunächst meist fassungslos, wenn sie hören, wie lange der Nachzug dauern kann. „Und sie stehen unter extremem Druck, sie brauchen viel Unterstützung, sei es oftmals auch ‚nur‘, dass wir ihnen Halt geben.“ Denn so ein Familiennachzug kann schon bis zu fünf Jahren und mehr dauern.