Wie Vesperkirche – nur anders

0

Reutlinger S-Haus in der Rommelsbacher Straße 1 teilt dreimal so viele Essen als vor Corona aus. Das besondere Restaurant sucht dringend nach einem Großspender

„Seit dem Lockdown am 18. März bis zur Wiedereröffnung am 23. April hatten wir Zeit, um uns zu sortieren und ein Konzept für eine mögliche Wiedereröffnung zu erarbeiten“, berichten Petra Wagner und Wolfgang Kuhn im Gespräch mit unserer Zeitung. Die Konsequenz: Seit diesem Tag im April gab es nicht mehr an allen Werktagen ein warmes Mittagessen, dafür aber reichliche Vesperpakete, gespickt mit Brot, Vitaminen und vielem mehr. „Und an zwei Tagen in der Woche gab es warmes Mittagessen, das wir selbst gekocht haben“, betont Wagner als hauptamtliche Geschäftsführerin des besonderen Reutlinger Restaurants.

Der Clou an der Sache: Wurden bislang schon für die Essen sehr geringe Preise bezahlt (von Bedürftigen einen noch geringeren), so kosteten die Mahlzeiten und die Vesperpakete nun nichts mehr. Gar nichts. In der Sommerpause hatte das S-Haus nicht geschlossen wie gewohnt, sondern verteilte an zwei Tagen die Lunchpakete und einmal in der Woche, donnerstags, wurde gekocht und über die Ausgabetheke im Eingangsbereich aus Hygienegründen in Einwegbehältern ausgegeben. „Wir haben aber mittlerweile umgestellt auf kompostierbare Behälter“, so Wagner. Wie das finanziert wurde? Über die Aktion Mensch. Petra Wagner hatte von dieser Möglichkeit über das Radio erfahren. Ein Volltreffer, denn über diesen Fördertopf hat das S-Haus insgesamt 45 000 Euro erhalten – die allerdings auf unterschiedliche Sparten verteilt werden müssen und nur auf Nachweis tatsächlich bewilligt werden. „Wenn wir am Ende des Jahres was übrighaben, müssen wir den Betrag zurückgeben“, berichtet Kuhn als Vorstandsmitglied des Reutlinger „Bürgervereins Unter den Leuten“, der als Träger des S-Hauses fungiert. Mittlerweile seien schon 45 Prozent der Gesamtsumme ausgegeben worden. „Zu Beginn wurden die Unkosten aber durch viele, viele Einzelspenden gedeckt“, sagt Kuhn.

Dass seit April das Essen kostenlos in dem Restaurant zu haben ist, hat die Zahlen der ausgegebenen Mahlzeiten in die Höhe schnellen lassen: „Hatten wir vor Corona durchschnittlich 30 Essen pro Tag, so sind es nun um die 90“, sagt Wagner. Eine glatte Verdreifachung. „Das ist ein deutliches Zeichen, dass der Bedarf vorhanden ist“, betont Wolfgang Kuhn. Und seit Corona wird in der kleinen Küche des S-Hauses auch selbst gekocht. Die Zahlen bei den kostenlosen Lunchpaketen liegen in etwa bei 60 pro Tag, sie schwanken aber stark, so Wagner. Finanziert werden die Esspakete über die Bürgerstiftung in Kooperation mit Reutlinger Einzelhändlern. „Für uns ist der Aufwand deutlich größer, weil ja zusätzlich eingekauft und gekocht werden muss“, so Kuhn. Ein Aufwand, der gerade noch so zu bewältigen ist.

Denn: Zwar melden sich einige Ältere aus dem Stamm der Ehrenamtlichen mittlerweile wieder zurück – aber es sind nur wenige Neue hinzugekommen. „Manche haben sich gemeldet, die wegen Kurzarbeit oder sonstigen Corona-Ausfällen plötzlich viel Zeit hatten“, sagt Petra Wagner. Von denen sind die meisten mittlerweile wieder weg. „Wir brauchen dringend zusätzliche ehrenamtliche Kräfte“, so Wolfgang Kuhn. „Die Klientel der Menschen, die hier ein Essen abholen, hat sich deutlich erweitert“, betont Wagner. Viel mehr Jüngere kommen nun zum Essen-Abholen, auch Wohnungssuchende, die bislang nie im S-Haus zu finden waren. Und: Die Klientel kommt nun nicht mehr allein aus der Umgebung des S-Hauses, sondern nun gar aus Rommelsbach und Orschel-Hagen.

Es zeige sich, dass das besondere Reutlinger Restaurant die Aufgaben der Reutlinger Vesperkirche – die in Januar und Februar vier Wochen lang die Bedürftigen der Stadt mit Essen versorgt – fortführt. Nur anders. „Wir tun auf jeden Fall was für die Armen in der Stadt“, betont Wolfgang Kuhn. Dabei seien so manche Finanzmittel für das S-Haus weggebrochen, denn: Nicht nur die Essensbezahlung, sondern auch die Raumvermietung bringe keine Einnahmen mehr. „Wir müssen jetzt planen, wie es zum Start ins neue Jahr weitergeht“, sagt Kuhn. Das hänge natürlich von der weiteren Corona-Entwicklung ab. „Wenn es keine weiteren Lockerungen gibt …“, sagt Kuhn. Dann könnten die Räumlichkeiten auch nicht wieder öffnen. Zudem stehe die Frage im Raum, ob wieder zu dem gewohnten Bezahlmodus für die Mahlzeiten zurückgekehrt werden soll. Oder muss.

„Es wäre natürlich ein Traum, wenn wir weiterhin das Essen kostenlos ausgeben könnten“, sagt Petra Wagner. Doch dazu müsste ein Großspender gefunden werden. Und noch einige mehr Kleinspender. Und mehr Ehrenamtliche. Wenn all das passe, „dann könnten wir unser jetziges Konzept weiterführen“, sagt Petra Wagner. „Was wir auf jeden Fall beibehalten wollen, ist das zweimalige Selbst-Kochen pro Woche“, führt Wolfgang Kuhn aus. Und etwas Positives habe Corona denn doch mit sich gebracht: „Der Teamspirit hier im Haus hat sich deutlich verändert – der ist spitzenmäßig“, lobt Wolfgang Kuhn den Zusammenhalt und die größere Selbständigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in dem besonderen Restaurant.

Share.

Comments are closed.