Es ist schon etwas länger her, als ich bei einem Zeitungstermin in Bad Urach war, einer kleinen schnuckeligen Stadt in der Nähe von Reutlingen, mit zahlreichen Fachwerkhäusern, umgeben von den extrem steilen Hängen des Albtraufs, die die Kommune eng umschließen. Manche Menschen kriegen Alpträume, wenn sie die hohen und steilen Hänge sehen. Und erst recht, wenn sie sich vorstellen, dort leben zu müssen, wo die Sonne viel zu spät aufgeht und viel zu früh wieder hinter den Hügeln versinkt. Aber: Es gibt wunderschöne Wanderwege in der Gegend, einer davon ist der zum Bad Uracher Wasserfall. Deutschlands vermeintlich schönster Wanderweg. Ja, er ist natürlich wirklich schön. In einer herrlichen Landschaft, einem schmalen Tal und mit einem tollen Wasserfall. Wenn denn Wasser fällt. Jetzt nach der Hitzeperiode ist nicht mehr viel davon zu sehen. Wunderschön ist der Fall aber vor allem im Winter, wenn gigantische Eismassen dort den Hang zieren. Einen Nachteil hat dieser Wanderweg jedoch: Nachdem er zum schönsten in der Republik ernannt wurde, stauen sich vor allem an den Wochenenden die Autokolonnen schon kilometerweit vor der Abzweigung in das Tal hinein. Und die Wanderwilligen kommen ja noch zu den Tausenden anderer Pkw-Fahrer hinzu, die über das Ermstal auf die Schwäbische Alb hinauffahren wollen. Jeden Sonntagvormittag staut sich die Blechlawine der Ausflügler aus der Großregion Stuttgart die Alb hinauf, ab 16 Uhr dreht sich der Stau dann um, und formiert sich in der Gegenrichtung. Wahnsinn.
Allerdings war ich heute Vormittag ja wegen des Antikmarkts in Urach. Und ich wunderte mich, dass es doch ein besonderes Publikum ist, das sich mit Hochgenuss auf solchen Märkten aufhält. Manche sind auf der Suche nach irgendwas ganz Bestimmtem. Nach Spielzeugautos einer gewissen Marke etwa. Oder nach alten Teddybären, noch älteren Standuhren, antiken Möbeln, richtigen Büchern – also keine digitalen, sondern solchen mit Seiten zwischen zwei Buchdeckeln. Schallplatten gab es dort ebenso wie Western-Groschenromane, platziert direkt neben einem richtig echten Sattel. War das als Hinweis zu verstehen? Wie aber passten dann die Jesuskreuze direkt dahinter dazu? Ich stand vor vielen Rätseln, vor noch mehr Ständen in den Gassen und auf dem Marktplatz von Bad Urach. Was hatte etwa Miniatur-Eisenbahn-Zubehör mit 1000-Reichsmarknoten gemein, die direkt nebeneinander zu finden waren. Oder Kochtöpfe neben Autoreifen? Als ich dieses Sammelsurium sah, fiel mir sogleich die Überschrift für meinen Artikel ein: „Kurioses, Kruscht und Krempel.“ Weil ich diesen Markt denn doch nicht völlig abqualifizieren wollte, änderte ich die Headline in „Kunst, Kurioses und Krempel“. Mal sehen, was die Zeitungen draus machen.
An einem Stand wollte ich fotografieren, weil dort einige Menschen zusammenstanden und mit einer Frau diskutierten, die nicht mehr als ein paar Plastikperlenketten anzubieten hatte. Als ich gerade meine Kamera auf die Kunden richtete, fuhr mich die Frau sofort an. „Nicht schon wieder, immer werde ich fotografiert, hauen Sie ab, ich verklage Sie“, rief sie mir entrüstet entgegen, schritt auf mich zu, gerade so, als ob sie mir die Kamera entreißen wollte. Ich versuchte mich zu verteidigen, doch sie ließ mich gar nicht zu Wort kommen. „Hauen Sie ab, ich verklage Sie“, brüllte sie mich an. „Wenn Sie meinen“, sagte ich kleinlaut und ging weiter. Für mich war das ein Beweis, unter welch erschwerten Bedingungen wir Journalisten arbeiten müssen. Dass wir keine Mühe und keine Gefahr scheuen, uns beleidigen lassen, sogar um Leib und Leben fürchten müssen.
Eine Entschädigung gab es ein paar Meter weiter, ebenfalls von einem Händler, der mich mit der Kamera sah und meinte: „Gell, Sie sind von der Zeitung?“ Zu welch geistige Hochleistungen manche Menschen doch fähig sind, wenn sie jemanden mit Notizblock, Kuli und Kamera sehen. Als ich bejahte, streckte er mir seinen Daumen entgegen, steil nach oben gerichtet, und er sagte: „Das hab ich gleich erkannt“, betonte er. „Machen Sie schöne Fotos“, forderte er mich noch auf. Ich entgegnete, dass ich mir Mühe gebe und zog einigermaßen versöhnt meines Weges.
An einem Stand wäre ich gerne länger geblieben. Aber nicht etwa, weil mich die Gläser, die dort herumstanden, so wahnsinnig interessiert hätten. Nein: Der Mann an dem Stand hatte jede Menge Sprüche parat. „Haufenweise Schnäppchenpreise“, rief er den Menschen entgegen. Das stimmte zwar nur bedingt, aber immerhin hatte er damit schon die Aufmerksamkeit einiger Kunden – vor allem Kundinnen – erregt. Nachdem sich eine Frau zum Kauf eines Glases entschlossen hatte, fragte der Händler: „Wollen Sie eine Polyethylentüte – aber nicht ins Meer werfen.“ Die Frau entgegnete etwas für mich Unverständliches, der Mann sagte: „Gell, Sie sind Lehrerin?“ Woran er das nur erkannt hatte, fragte ich mich. Hatte die Frau eine belehrende Art gehabt? Eine fürsorgliche, erzieherische? Oder gar eine besserwisserische? Oder wie war er auf die Idee gekommen? Lag’s am Aussehen der vermeintlichen Lehrerin? Das erinnerte mich an einen anderen Stand, an dem offensichtlich eine Frau ein Kleid vor sich hinhielt. Die Verkäuferin sagte: „Das passt ganz toll als Kontrast zu Ihrem Teint.“ Als Mann war ich etwas verblüfft. Leider hatte ich weder Kleid noch Frau richtig gesehen. Aber vielleicht war ja das Kleid sehr bunt und die Frau etwas blass? Oder die Dame braun gebrannt und das Kleidungsstück einfach nur weiß? Ich habe es im Vorbeigehen nicht herausgefunden. Vielleicht aber war die Frau ja dieselbe wie am Glasstand, also die vermeintliche Lehrerin. Was das dann allerdings über ihren Teint aussagen würde? Ich habe leider nicht den Hauch einer Ahnung.