Dramatik nimmt deutlich zu

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Situation in der Reutlinger Tafel zeigt sich bei Besuch von Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck als extrem schwierig. Immer weniger Ware, immer mehr Kunden

Seit drei Monaten engagiert sich Dieter Oßwald in der Reutlinger Tafel und ist dort einer von insgesamt 70 Ehrenamtlichen. Am Dienstag verteilt er Nummern an die wartenden Kunden. „Wir haben auf eine Losverfahren umgestellt, weil es immer wieder vorkam, dass Kunden schon um 7 Uhr hier standen und Tüten als Platzhalter vor die Tür gestellt haben“, erläutert Gisela Braun als Tafel-Chefin. Manch Unruhe habe es da gegeben und das Schlimmste – „unsere Stammkundschaft bleibt seit einigen Wochen weg“, so Braun. Vor allem ältere Menschen, die keine drei Stunden vor dem Gebäude stehen können, wurden seit längerem nicht mehr gesehen.

Dafür sei „die Zahl der Tafelkunden seit Beginn des Ukraine-Kriegs deutlich angestiegen, jetzt haben wir täglich 100 bis 130 Kunden“, sagt Braun. „Das sind zu viel – über 100 Kunden am Tag bedienen zu können, das ist für unsere Mitarbeiter kaum mehr leistbar“, sagt Dr. Joachim Rückle. Hinzu komme, dass Supermärkte und Discounter strenger kalkulieren und somit immer weniger Lebensmittel zur Verfügung stehen. Deshalb müssten Lebensmittel in der Tafel rationiert werden. „Die Kunden können also nicht so viel nehmen, wie sie wollen“, sagt Rückle als Geschäftsführer des Diakonieverbands. „Viele Kunden denken, die Tafel sei ein normaler Supermarkt.“ Dass die Waren dort Spenden sind, „das wissen viele nicht und aus ihren Herkunftsländern kennen sie oft keine ehrenamtlichen Tätigkeiten“, sagt Braun. Da helfe nur: immer wieder erklären.

Weil die 25 Fahrer der Tafel mit immer weniger Ware von ihren Touren zu den Läden zurückkommen, „sind wir dringend auf Privat-Lebensmittelspenden angewiesen“, ergänzt Gisela Braun. Jetzt zum Erntedankfest würden in vielen Kirchengemeinden Waren gespendet – aber danach sei die Not ja nicht vorbei. Das wissen auch Sozialamtsleiter Joachim Haas und Oberbürgermeister Thomas Keck, die sich gestern über die Situation der Tafel vor Ort informierten. „Viel helfen können wir nicht, die Stadt hat kein Geld“, sagt Keck. Aber: Ein paar Sitzmöglichkeiten für die Wartenden müssten schon möglich sein oder auch die Löcher im Asphalt zu flicken, die im Hof das Rangieren der Lebensmittel enorm erschweren. „Wir schauen, was sich da machen lässt“, so Keck.

„Zurzeit haben wir 1250 Berechtigungskarten ausgestellt“, sagt Braun. „Dahinter stehen rund 3000 Personen.“ Seit März dieses Jahres hat die Tafel 770 Karten an ukrainische Geflüchtete ausgestellt. Und klar sei, dass die Zahl der Flüchtlinge nicht abnehmen wird – weder aus der Ukraine, noch aus dem Rest der Welt. „Wir haben dieses und nächstes Jahr 150 Geflüchtete aus Nicht-Ukraine-Staaten, hinzu kommen Menschen, die ja schon fast vergessen wurden – Ortskräfte aus Afghanistan“, betont Joachim Haas.

Eine der ukrainischen Geflüchteten ist Irina Dobre: Sie stammt aus der Mitte der Ukraine, war vor 15 Jahren als Aupair in Holzelfingen. „Als der Krieg begann, hat mich meine Gastfamilie angerufen und mich mit meinen zwei Söhnen aufgenommen“, berichtet die 37jährige Lehrerin. Im vergangenen halben Jahr hat sie drei Monate in Schulen in Lichtenstein ukrainische Kinder unterrichtet. Sie spricht fließend Deutsch und sucht nun, in den Sommerferien, nach einer anderen Tätigkeit. Schwierig sei es, einen Kindergartenplatz für ihren fünfjährigen Sohn zu finden und dann zwischen zwei Schulen, in denen sie unterrichtet, zu pendeln. „Es ist schon nicht einfach, von Holzelfingen überhaupt hier zur Tafel zu kommen“, sagt Dobre. Und wenn sie arbeitet, sei das Angebot an Lebensmitteln nachmittags sehr überschaubar.

Eine Person, die sich wie Dieter Oßwald ehrenamtlich in die Tafel einbringt, ist Juliane Dippon: Sie ist Theologiestudentin und macht momentan ein dreimonatiges Praktikum. Ihre Eindrücke? „Man kriegt hier einen Einblick in ein ganz anderes Lebensfeld“, sagt sie. Sowohl die Not der Menschen wie auch die Verschwendung von Lebensmitteln hier hautnah zu erleben, das sei sehr eindrücklich, betont Dippon. Toll sei das Team, mit dem sie täglich dort zusammenarbeite. „Weitere Ehrenamtliche, die sich vor allem flexibel hier bei uns einbringen könnten, wären toll“, sagt Braun. „Ich sehe sehr deutlich, dass die Arbeit in der Tafel nicht einfacher geworden ist“, resümierte Thomas Keck bei seinem Besuch.

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