Hauen, Stechen, Ziehen und Schieben

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Stocherkahnrennen lockte mehr als 10 000 Besucher an den Tübinger Stadtfluss. Sieger: Team Nicaria, Verlierer: Landsmannschaft Ghibellinia

Kurz vor Beginn des Tübinger Stocherkahnrennens am gestrigen Donnerstag war zwar jeder Zentimeter, wenn nicht gar Millimeter am Neckarufer, auf den Brücken, in den Fenstern der anliegenden Gebäude und vor allem auf der Neckarinsel sozusagen mit Menschen geflutet – davon ungeachtet paddelten jedoch ein paar Enten in aller Seelenruhe über den Tübinger Fluss. Gerade so, als gäbe es keinen ruhigeren Flecken auf dieser sonnenbeschienenen Erde.

Das sollte sich jedoch schlagartig ändern, als um kurz nach 14 Uhr die Stocherkähne bei der Brücke in Höhe des Tübinger Freibads in drei Reihen gestartet waren und sich die ersten beiden Kähne dem Hölderlinturm sowie dem verhängnisvollen Nadelöhr unter der Eberhardsbrücke näherten. In den Booten, die jeweils mit acht Personen besetzt waren, versuchten alle (bis auf die Stocherer) verbissen, mit ihren Händen so viel wie möglich Wasser unter das Boot zu bringen. Dabei sollte man schon aufpassen, so tönte der Moderator des diesjährigen Stocherkahnrennens, „dass man das Wasser nicht in das Boot schaufelt“. Dass so was sehr leicht passieren kann, hatte das Team der AV Guestfalia beim letzten Rennen vor drei Jahren leidvoll erfahren müssen, denn: Sie hatten den Wettbewerb schmachvoll verloren. Warum? „Schon nach 200 Metern hatten wir unseren Stocherer verloren“, so der Guestfalia-Moderator. Gleiches war gestern auch einem Kahn passiert: „Da ist der Stocherer über Bord gegangen“, hieß es. Während die ersten beiden dieser besonderen Stocher-Boote das „Nadelöhr“ an der Neckarbrücke schon völlig unbedrängt zweimal durchquert hatten, fehlte von den anderen Booten noch jede Spur.

„Wo sind sie nur“, rief der Moderator mitfühlend. Er erinnerte sich offensichtlich noch sehr gut an sein letztes Rennen mit den Kumpanen der Guestfalia. „Wir mussten 20 Minuten am Nadelöhr warten.“ Nicht ganz so gedrängt ging es nun am gestrigen Fronleichnamstag zu.

Auch dort herrschte unter der Neckarbrücke ein Hauen, Stechen, Ziehen und Schieben, wenn mehrere Boote gleichzeitig durch die Engstelle wollten. Mit Fairness hatte das wenig bis gar nichts zu tun – aber wer sagt denn, dass es beim Stocherkahnrennen um Fairness geht. Während die Stocherinnen und Stocherer sowie ihre sieben Mitstreiterinnen und Mitpaddler körperlich und geistig alles gaben, um sich einen der vorderen Plätze zu erkämpfen (beziehungsweise nicht auf den allerletzten Platz zurückzufallen),

amüsierte sich das vor allem jüngere Publikum unter den rund 12 000 Menschen zumeist köstlich: Decken waren ausgebreitet, zahlreiche Bierkästen mitgeschleppt worden, einige Mädels und Jungs tanzten zu der dröhnenden Musik, viele drängten sich aber auch einfach von einem Ende zum anderen auf der Neckarinsel.

Besonders interessant: Die meisten der Zuschauer schien gar nicht so sehr zu interessieren, wer den ersten Platz des Rennens belegte – das war wie schon 2019 der Titelverteidiger des Teams Nicaria, die ein weiteres Jahr den Wanderpokal behalten dürfen und ein Fass Bier gewannen. Viele (oder sogar die meisten der Zuschauer) wollten viel dringender wissen, wer denn in diesem Jahr das Verliererboot stellte.

Die Landsmannschaft Ghibellinia hatte sich während des Rennens dadurch hervorgetan, dass sie nicht mit den anderen Kähnen kämpfte, sondern deutlich mehr mit der Uferböschung.

Und während um 14 Uhr 32, also eine knappe halbe Stunde nach dem Startschuss, bereits 25 der 43 Kähne das Ziel an der Eisenbahnbrücke erreicht hatten, kämpften 18 noch verbissen um jeden Meter. „Keine Frage, auf der Zielgeraden schwinden die Kräfte“, so der Moderator, wiederum aus eigener leidvoller Erfahrung. Um 14 Uhr 43 hieß es: „Ein Kahn ist noch nicht im Ziel angekommen.“ Fünf Minuten später weiterhin: „Ein Kahn fehlt noch.“ Ob da bewusste Zeitverzögerung im Spiel war? „Das Renngericht wird das zu ahnden wissen“, betonte der Moderator. Kurz darauf hatte auch das letzte Boot, eben jene Ghibellinianer, das Ziel erreicht.

Die anschließende Siegerehrung fand unter tosendem „Wir trinken Bier, was trinkt ihr“ nicht nur des Gewinnerteams statt. Gefühlt brüllte ganz Tübingen den Spruch mit und zeigte auch kein Mitleid, als die acht Verlierer den Lebertran hinunterwürgen mussten. „Das ist kein Spaß“, hatte der Moderator zuvor schon angedeutet. Ein Spaß war es für die große Mehrheit der Zuschauer aber allemal, den hartnäckigen Kampf und das Herauslocken der allerletzten Kraftreserven aus den Körpern der Mitglieder aller Stocherkahn-Teams zu beobachten. Ob da Schadenfreude mitspielte? In letzter Instanz dürfte das Publikum froh gewesen sein,

dass sie sich „nur“ durch die Menschenmassen und nicht über das Wasser des Neckars hatten kämpfen müssen.

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