„Es kann für alle reichen“

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Reutlinger Vesperkirche endet nach vier Wochen in der diesjährigen „Tütenversion“ mit einem Abschlussgottesdienst in der Marienkirche. Predigt von Asylpfarrerin Ines Fischer

Von Gästen der Reutlinger Vesperkirche hatte Jörg Mutschler gehört, „dass sie in den vergangenen eisigen Nächten in der Pomologie übernachtet haben“, sagte der Vesperkirchenpfarrer am gestrigen Sonntag. Zum Abschluss der diesjährigen Tüten-Vesperkirche fragte Mutschler in der Reutlinger Marienkirche: „Warum ist es nicht möglich in einer Stadt wie Reutlingen, wenigstens einen Erfrierungsschutz zur Verfügung zu stellen?“ Und Ines Fischer ging in ihrer Predigt noch einen Schritt weiter: Genauso wie die evangelische Kirche in Deutschland sich entschlossen hatte, ein Flüchtlingsschiff zu kaufen und damit Menschen auf dem Mittelmeer zu retten, so müsse Kirche auch in Sachen Armut und Obdachlosigkeit eindeutig Flagge zeigen: „Man lässt keine Menschen verhungern und man lässt auch keine Menschen erfrieren“, sagte Reutlingens Asylpfarrerin. Genau dazu sei auch Vesperkirche da – Menschen zu retten, für eine gewisse Zeit ein Zuhause zu bieten, Essen und Fürsprache. Aufgabe der Kirche sei aber auch in und nach der Zeit der Pandemie, „unbequemer zu sein“, so Fischer. Weil die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinanderklaffen werde. Die Botschaft müsse lauten: „Es kann für alle reichen“, so Ines Fischer.

Dr. Joachim Rückle zog beim Abschlussgottesdienst ein Fazit der Vesperkirche 2021: An insgesamt 29 Öffnungstagen wurden bei der diesjährigen Vesperkirche mehr als 10 000 Tüten verteilt, „zuletzt waren es mehr als 400 pro Tag.“ Während am ersten Öffnungstag bei Schneefall und Kälte vor der Nikolaikirche „nur“ 150 Vesperkirchen-Tüten an Bedürftige ausgegeben wurden, stieg die Zahl von Tag zu Tag an. „Wir sind überwältigt von der Nachfrage“, bekräftigte der Diakonieverbands-Geschäftsführer. Aber:

Rund 150 Ehrenamtliche hatten sich auch dieses Jahr wieder in die Vesperkirche eingebracht, sie haben Vesperbrote geschmiert, Tüten gepackt und verteilt, vor der Nikolaikirche dafür gesorgt, das Abstände eingehalten wurden. „Und wir haben insgesamt mehr als 15 000 medizinische Masken verteilt“, sagte Vesperkirchenpfarrer Jörg Mutschler. Die Gesamtkosten der diesjährigen Vesperkirche stehen laut Rückle noch nicht fest, aber: „Es zeichnet sich ab, dass auch 2021 die Ausgaben erneut aus Spendenmitteln finanziert werden können“, betonte Joachim Rückle. „Insgesamt haben 1500 Einzelpersonen und Unternehmen für die Vesperkirche gespendet.“ Besonders erfreut zeigte sich Rückle, dass viele Tüten an weniger mobile Nachbarn oder Familienmitglieder weitergegeben wurden. „Gäste, die oft völlig unzutreffend als ‚sozial Schwache‘ bezeichnet werden, haben hier mitmenschliche Stärke gezeigt“, so der Diakonieverbands-Geschäftsführer.

Froh zeige sich der Leitungskreis, dass die Verteilung der Tüten stets friedlich und sehr diszipliniert vor sich ging – „und dass es keine Corona-Infizierungen gab“, so Rückle. Wehmut spiele im Rückblick auf die diesjährige Vesperkirche allerdings auch eine Rolle: „Viele Gäste bedauerten sehr, dass in den vergangenen vier Wochen die Gemeinschaft am Tisch in der Nikolaikirche nicht möglich war.“ Zusammen mit dem Leitungskreis und den Ehrenamtlichen waren laut Rückle auch die Gäste froh, dass diese besondere Tüten-Vesperkirche 2021 durchgeführt wurde. Aber: Die Hoffnung sei auch immer wieder geäußert worden, dass im kommenden Jahr „das besondere Gasthaus“ wieder im gewohnten Rahmen seine Türen öffnen könne. Jörg Mutschler beschloss den Gottesdienst zum Abschluss der Vesperkirche 2021 mit den Worten: „Bis zum nächsten Jahr in der Vesperkirche 2022.“

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