Endlich Amrum – 4 Naturphänomen

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4 Naturphänomen

Eine fast durchwachte Nacht liegt hinter uns. Ob jetzt aufgrund der Hitze und keinem Lüftchen, das sich bewegen wollte, oder wegen Lukas bevorstehender Abreise – das sei mal dahingestellt. Der Einzige, der gut geschlafen hat, war Luka selbst. „Bist du nicht aufgeregt“, hatte Sabine gestern mehrfach den Spross gefragt. Spätestens nach dem zweiten oder dritten Mal entgegnete er schon ziemlich genervt: „Warum soll ich denn aufgeregt sein?“ „Na, weil du morgen ganz allein die weite Strecke von Amrum nach Reutlingen fahren wirst“, sagte Bine. „Ich hätte mir damals in solch einer Situation wahrscheinlich in die Hose gemacht.“ Luka lässt das kalt. Trotzdem ist uns allen nicht ganz wohl heute Morgen. Der Junior wäre gerne weiter geblieben, wir hätten ihn gerne weiter hier gehabt. Aber: Am Montag muss er wieder in die Schule.

Wir haben ihn heute Morgen zum Bus gebracht. Sowohl bei Luka wie auch bei Bine hatte zuvor der Wecker versagt. Wäre ich nicht eh schon lange wach gelegen, hätten wir wohl alle verschlafen. Und dann war wieder das gleiche Problem wie bei der Ankunft auf Amrum: Der Bus war gestopft voll. Luka kam gerade noch als Vorletzter hinein. Kaum war er weg, ging es uns beiden … seltsam. Schade, dass er weg war. Was fangen wir nun mit uns beiden an? Wir gingen erst mal einkaufen und dann zurück in die Wohnung. Frühstücken und dann wieder ins Bett. Noch eine Runde schlafen. Als wir uns dann schließlich aus den Federn quälten, hatte sich das Wetter verändert. Keine Sonne mehr. Dafür aber auch nicht mehr so dämpfig. Wir gingen zum „Lamm-Event“ in Norddorfs Ortsmitte, eine Art Kunsthandwerkermarkt mit Schafschur und ein bisschen mehr Brimborium.

Anschließend liefen wir weiter zum Strand, nicht ohne an unserem Lieblings-Eisstand vorbeizugehen und das supergute Rhabarber-Eis mitzunehmen. Am Strand trauten wir dann unseren Augen nicht – wir konnten kaum die Strandkörbe erkennen. Und das Meer war überhaupt nicht zu sehen. Alles versank im Nebel. Wahnsinn. Wo kam der denn her? Wir liefen zum Wasser – und das kam nun tatsächlich mal kurz hinter den Strandkörben in Wellen, die man als solche aber kaum erkennen und bezeichnen konnte, an den Strand. Allerdings war die bräunliche Farbe, die uns bisher ziemlich abgeschreckt hatte, auch heute wieder deutlich sichtbar. Wenn auch nicht ganz so extrem wie bisher, wenn wir bei Ebbe am Meeressaum entlanggewandert sind. Wir liefen ein Stück weit in Richtung Nebel, das Wasser war extrem warm. Handwarm, hätte man durchaus sagen können. Aber immer noch wenig einladend, aufgrund der braunen Farbe. Trotzdem badeten ein paar Leutchen.

Nach rund einer halben Stunde lichtete sich auf einmal der Nebel, die Sonne kam durch und innerhalb von wenigen Minuten war der Himmel blau und der Planet stach fast wie gewohnt. Nur, dass es nicht so dämpfig war. So was hatten wir noch nicht erlebt, solch einen abrupten Wetterwandel, so einen Wechsel von Nebel zu Sonnenschein. Ein faszinierendes Naturphänomen. Mit so was hatten wir nicht gerechnet, geschweige denn, dass wir uns Sonnencreme eingeschmiert hätten. Wir liefen also bald über einen Bohlennweg zurück in Richtung Norddorf, begegneten dabei einmal mehr einem zutraulichen Rebhuhn, diesmal war es sogar ein Hahn. Heißt der dann Rebhahn? Und dann auch noch ein Mini-Kaninchen, das sich nicht sofort bei unserem Annähern aus dem Staub machte. Rund zwei Meter entfernt mümmelte es an einem Grashalm und ignorierte uns mehr oder weniger. Sehr hübsch.

Es folgte der erste Tag ohne Luka. Und was denke ich als allererstes? Der Junge ist gut in Reutlingen angekommen. Was für ein Glück. Früher war die Kommunikation eine andere. Da gab’s kein WhatsApp. Ja nicht einmal Emails. Als ich 1989 für drei Monate allein nach Neuseeland geflogen bin, hörten meine Eltern fast zwei Monate nichts von mir. Oder hatte ich mich kurz per Telefon gemeldet, als ich nach 48 Stunden Flug und Zwischenstopps in Auckland angekommen bin? Ich weiß es nicht mehr, glaube es aber eher nicht. Damals war ja selbst telefonieren schwierig. Ging nur mit Anmelden und langem Warten bei der Post. Das waren noch Zeiten. Hört sich heute an wie Erinnerungen aus dem Wilden Westen, irgendwann im 18. Jahrhundert oder so.

Mein zweiter Gedanke heute: Urlaub. Was für ein Glück, mal nicht morgens vor dem Aufstehen schon denken zu müssen: Was steht denn heute alles an? Und weil Luka nun weg ist, muss ich auch nicht denken, ich müsste die Familie unterhalten. Auch ich kann mich nun mal treiben lassen. Einfach das tun, was mir gerade einfällt. Oder eben auch nicht einfällt. Also quasi nichts. Am Tablet sitzen und schreiben. Was mir gerade so einfällt. Kurz nach dem Aufstehen, also zwischen 11 und 12 Uhr stellte sich mir allerdings sogleich eine entscheidende Frage: Ich hatte den Toast in das erste von zwei Fächern hineinbugsiert. Als er heraussprang, tat er das allerdings aus dem zweiten Fach. Kann das sein, fragte ich mich. Sinnestäuschung? Ich war mir doch sicher, dass … Sabine sagte dazu: „Das ist wie beim Drucker, der zieht das Papier doch auch aus dem einen Fach ein und spuckt es aus dem anderen wieder aus.“ Ah ja.

Als ich dann den Zucker in die Kaffeetasse leerte, umrührte, fiel mir ein, was meine Mutter früher zu mir sagte: „Nimm den Löffel raus, du stichst dir sonst ins Auge.“ Ich habe allerdings den Löffel immer in der Tasse drin gelassen. Also solange die Tassen nicht Tassen, sondern Becher waren. So auch heute Morgen. Ich versuchte danach, ob das überhaupt möglich ist, sich mit dem Löffel ins Auge zu stechen. Ging nicht. Der Löffel ist viel zu kurz. Muss ich meiner Mutter mal vorführen, dachte ich. Sabine sah mich ganz komisch an, was ich da für seltsame Versuche durchführe. „Hast du schon mal probiert, dir mit dem Löffel im Kaffeebecher ins Auge zu stechen“, erläuterte ich. Auch weil Sabine selbst solchem ausgemachten Blödsinn folgen kann, liebe ich sie. Wie herrlich. Urlaub.

In den Nachrichten überwiegt heute Mittag das WM-Vorbereitungsspiel der Fußballnationalmannschaft gegen Österreich. Jogis Jungs haben 2:1 verloren. Was für eine Blamage. Aber was für ein Glück, dass ich den Kick nicht angesehen habe. Und dann kommt heute auch noch die deutsche Kanzlerin ins Trainingslager. Ob das die Spieler motiviert? Oder eher abtörnt? Nach Özils und Gündogans Ausraster mit der Werbung für Erdogan? Wer weiß. „Wann fängt die Europa … meisterschaft überhaupt an“, fragte Sabine. „Weltmeisterschaft“, sage ich besserwisserisch. „Es ist die Weltmeisterschaft, die bald beginnt. Aber wann, weiß ich auch nicht.“ Seit ich mit Bine zusammen bin, habe ich mir das Fußball-Interesse abgewöhnt. Und sie hat ja ebenso wie Luka recht mit ihrem Desinteresse. Sich mehr als 90 Minuten solch ein Rumgekicke anzusehen, bei dem im Regelfall nicht mehr als zwei oder maximal drei Tore fallen. Manchmal gar keine. Wie blöd muss … nein, lassen wir das.

Ich befasse mich lieber wieder mit angenehmeren Dingen. Mit Urlaub. Also dem Urlaub an und für sich, denn der bedeutet ja auch: Ganz viel Zeit zum Lesen zu haben. Endlich mal Zeit, um die ZEIT nicht wie gewohnt in seine Einzelteile zu zerfledderrn und lediglich zwei bis vier Artikel zu behalten, um sie irgendwann mal zu lesen. Urlaub heißt: Fast jeden Artikel zumindest anzulesen und dann erst zu entscheiden, ob mich das gerade interessiert. So wie einen Bericht über Sylt. Warum eigentlich Sylt, denke ich. Im Vergleich mit Rügen geht die ZEIT in einer Kurz-Serie der Frage auf den Grund „Wo ist Europa schöner?“ Wieso nehmen die Sylt und nicht Amrum, denke ich. Hier sind die Strände viel breiter, viel länger. Ansonsten trifft vieles, was die Autorin beschreibt, auf beide Inseln zu. Endlose Weite. Sand, Sand, Sand, Düne, Sand. Und dazu immer grau oder glitzernd, blinkend – das Meer. Und je breiter der Strand oder das Watt, umso mehr findet sich der Besucher in einem angenehmen Gefühl des Verlorengehens wieder. So beschreibt es Ronja von Rönne in der ZEIT. Und sie hat Recht. Gleiches gilt sowohl für Sylt wie für Amrum. Dieses Gefühl des Verlorengehens. Ich hatte es schon oft als „Möglichkeit des Seele-baumeln-lassens“ empfunden und beschrieben. Als dieses Gefühl, den Alltagsballast in Dagebüll-Mole, mit dem ersten Anblick des Meeres hinter sich lassen zu können. Das ist im Übrigen auch einer der Unterschiede zu Sylt: Auf Amrum ist man nicht auf einmal, auf einen Schlag, so wie auf Sylt. Amrum muss man mit der Fähre anpeilen. Und während der 1,5- bis zweistündigen Schifffahrt (je nach Zwischenstopp oder nicht auf Föhr) gewöhnt sich die Seele daran, dass der Alltag zurückbleibt. Man kann alles auf dem Festland lassen. Der Alltag bleibt also zurück oder geht verloren inmitten der Nordsee. Nach Sylt kommt man hingegen mit dem Zug. Oder mit dem Auto. Auf dem Zug. Wie schnöde. Und ist dann ganz plötzlich da. Ohne die Möglichkeit, den Alltag zurück zu lassen.

Also: Amrum ist viel schöner als Sylt. Das denke ich immer wieder. Auch und gerade, wenn der Hörnumer Leuchtturm auf Sylt vom Kniepsand auf Amrum aus zu erkennen ist. Nur drei Dinge hat Amrum nicht: Eine „Champagnerfraktion“, die sich vor allem in Kampen auf Sylt niederlassen soll. Und hier auf Amrum sind auch nicht um jede Ecke Bars und Kneipen zu finden. Und drittens: Eine Düne namens „Uwe“ gibt es auf Amrum ebenfalls nicht. Aber man könnte sich hier den Spaß erlauben und jeder Düne einen x-beliebigen Namen verpassen. Also Peter und Paul, Erika und Johanna, Norbert und Sabine. Fritz und Schmitz. Egal welchen. Das Spiel würde aber wohl ziemlich schnell seinen Reiz verlieren. Weil einem alsbald die Namen ausgehen würden.

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