Was ist aus ihr geworden, der selbstironischen Negativ-Werbekampagne von Reutlingen mit bundesweiter Aufmerksamkeit? Müsste nicht etwas nachfolgen?
War sie nicht spaßig? Einfallsreich? Originell? Doch. Alles zusammen. Vor rund einem Jahr war Reutlingen in ganz Deutschland in den Schlagzeilen. Mit einer Kampagne, die Witz und durchaus (selbstironischen) Charme hatte. Wer am Bahnhof der Achalmstadt ankam, wurde mit einem riesigen Plakat empfangen: „Wir müssen dir leider mitteilen – du bist in Reutlingen.“ Ein Hingucker. Eine Aussage, die zunächst mal stutzen ließ. Und dann lachen – sofern man über sich selbst (und einen wahrlich nicht schönen Bahnhof) lachen kann. Ein anderes Plakat: „Herzlich willkommen und tut uns leid.“
Die Zahl der coolen Sprüche war groß im Juni 2024. „Leben, wo keiner Urlaub macht.“ Oder etwa: „Was hat die Schwäbische Alb eigentlich verbrochen, dass man ihr Reutlingen vor die Füße gebaut hat?“ Einfallsreich auch: „Das S in Reutlingen steht für schön.“ Alle diese Sprüche waren versehen mit der kleinen, leicht zu übersehenden Anmerkung: „Reutlingen kannst du nicht mögen.“ Wir erinnern uns: Die Auflösung der Schmähkampagne erfolgte nach wenigen Tagen, „Reutlingen kannst du nicht mögen“ wurde ergänzt mit „Nur lieben.“ Viele Reutlinger gaben online an, warum sie gerne in der Stadt leben, warum sie sie lieben.
(Foto: Reutlinger Marienkirche mit Teilen des Rathauses, GWG-Bau, Spinatbau und Handarbeitsschule.)
Alles gut soweit. Doch jetzt? Nahezu ein Jahr später? Reutlingen dämmert in der Sommerhitze im Juni 2025 vor sich hin. Von (positiven oder gar bundesweiten) Schlagzeilen keine Spur. Außer, dass uns lokal heute die Nachricht erreichte, Oberbürgermeister Thomas Keck habe Interesse, 2027 noch einmal bei der OB-Wahl anzutreten.
(Foto: Gibt’s nur in Reutlingen – der Blick vom Georgenberg auf die Stadt, die Achalm und den Albtrauf.)
Aber: Wäre es nicht Zeit für eine erneute Kampagne? Für einen erneuten Hingucker? Ein überraschendes witziges Highlight in den Katastrophenschlagzeilen? Doch wie könnte das aussehen? Nach den außergewöhnlich werbewirksamen Schmähkommentaren hatte OB Keck gesagt: Man habe die Vorurteile über Reutlingen „selbstironisch und humorvoll“ aufgegriffen. Ob es außerhalb der Achalmstadt tatsächlich solche Vorurteile gibt, sei mal dahingestellt. Schon eher neigen die Reutlingerinnen und Reutlinger selbst dazu, ihre Stadt schlechtzureden – was nicht nur dem OB schon mehrfach sehr sauer aufgestoßen ist. Die Kampagne aus dem vergangenen Jahr hat wohl dazu beigetragen, den Heimatort aus einem etwas anderen Blickwinkel zu sehen.
(Foto:Vielleicht braucht Reutlingen einfach ein bisschen mehr Farbe? Obwohl diese Ansicht auch ohne farbliche Aufhübschung eine der schönsten der Achalmstadt ist.)
Schließlich hat Reutlingen ja auch einiges zu bieten. Die Museen etwa. Heimat-, Naturkunde- und Kunstmuseen, die immer wieder tolle Ausstellungen auf die Füße stellen. Die Häuserzeile am Tübinger Tor ist ein tolles Eck, die Grünfläche mit den Hüpfelementen davor ein Platz, der besonders bei jungen Familien sehr beliebt ist. Dazu Planie, Volkspark, Pomologie und der Stadtpark als grüne Lungen – gerade jetzt bei der brütenden Hitze sind das sehr schöne, schattige Zufluchtsorte. Außerdem locken Bürgerpark, Echaz-Terrassen, das inklusive Theater Tonne, Marienkirche, natürlich die Achalm, Georgenberg, die Stadthalle – die allerdings nur schön ist, wenn es dunkel wird. Aber sie hat viel abwechslungsreiches Programm zu bieten.
Und Reutlingen verfügt über viel Entwicklungspotenzial – mit all den Industriebrachen wie das Wagner-Areal, die Flächen der einstigen Firma Stoll direkt an der Echaz, das Wendler-Areal bei der Färberei. Da ließe sich was draus machen. Aber die Reutlinger müssten auch mitmachen, das mittragen, sich einbringen. Wie im Gerberviertel etwa.
(Foto: Mit Farbe wird alles irgendwie … bunter.)
Natürlich haben auch die Teilgemeinden Reutlingens viel zu bieten: Gönningen etwa in der tollen Lage am Albtrauf mit der jährlichen Tulpenblüte, Degerschlacht mit dem fantastischen Weitblick bis Tübingen und gar bis zum Schloss Hohenzollern. Betzingen, Sickenhausen, Reicheneck, Ohmenhausen – alle behaupten sie, die schönsten Teilorte Reutlingens zu sein. Einer der kleinsten Orte meint gar: „Nichts ist geiler als Bronnweiler.“
(Foto: Stadthalle mit mehr Farbe – wäre schön, nicht nur nachts.)
Natürlich gibt’s auch Verbesserungspotenzial. Für junge Menschen etwa wird zu wenig geboten, außer dem Skaterpark und den Fontänen vor dem Krankenhäusle. Es gibt zwar zarte Versuche, die Hochschule und die Studierenden in die Stadt zu kriegen. Bisher bleibt’s bei diesen Versuchen. Es müssten halt alle mitziehen. Auch Vermieter von leerem Wohnraum in der Innenstadt.
(Foto: Noch schöner wäre das Rathaus mit mehr Farbe.)
Doch wie verpackt man all das in eine neue Kampagne? Vielleicht sollten nochmals 25.000 Euro zur Verfügung gestellt werden. Soll sich die Werbeagentur „Die Kavallerie“ doch noch einmal was einfallen lassen – dass sie ausgerechnet aus Tübingen kommt, was soll’s. Immerhin hat sie mit der Kampagne 2024 richtig gute Arbeit abgeliefert. Nur so, als Versuch von meiner Seite: Die Uni-Nachbarstadt am Neckar ist vielleicht schöner, aber das Tübinger Tor hat Reutlingen . Und dazu bald ein millionenschweres Glashaus.
(Weitere Sprüche der „Kavallerie“ im Juni 2024 über Reutlingen)
„Nichts ist so langweilig wie ein aufregender Tag in Reutlingen.“
„Nicht nett hier. Gehen Sie lieber woanders hin.“
„Wenn du die Lage deiner Stadt mit ‚bei Tübingen‘ erklären musst.“
„Reutlingen. Und du dachtest Pforzheim sei langweilig.“
„Achalmstadt Reutlingen? Passender wäre Friseurstadt Dönerlingen.“
„Reutlingen ist immer eine Reise wert. Sofern man dort startet.“
„Nimm Berlin mal die Größe, die Kultur und den Style. Was bleibt dann noch übrig? Reutlingen.“
„Selbst Tauben wollen hier nicht bleiben.“
„Reutlingen. Taugt als Becken für einen Echaz-Stausee.“
„Das Schönste an Reutlingen ist die B28 nach Tübingen.“
„Nichts ist so langweilig wie ein aufregender Tag in Reutlingen.“
„Reutlingen feiert sich für die engste Straße der Welt. Das sagt alles.“
„Große Achalm nichts dahinter.“
„Das ACH in Achalm ist ein trauriger Seufzer.“