Viel Unwissen und fehlende Fachkräfte bei Autismus – Fachtag in Tübingen

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Autismus-Fachtag mit Vorträgen, Workshops und Riesen-Interesse von Pädagogen, Schulbegleitern und Betroffenen

 Sind Autisten allesamt sozial unterentwickelte, unkommunikative, „empathielose Wesen und gleichzeitig hochbegabte IT-Nerds“, wie Andreas Croonenbroeck als Betroffener am Mittwoch in der Tübinger Eisenbahnstraße 1 nach einem Fachtag „Autismus“ beim Pressegespräch provozierend betonte. Nein, Symptome von Autismus seien extrem vielfältig und sehr individuell, betonten sowohl Dr. Gottfried Maria Barth als stellvertretender Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie Tübingen wie auch Dr. Andreas Riedel, leitender Arzt der Ambulanten Dienste der Luzerner Psychiatrie.

Anfangs registrierte Caren Löwen bei ihrem Sohn, dass er sich – verglichen mit Gleichalterigen – nicht so entwickelte wie die Anderen. Doch je älter der Kleine wurde, umso „größer wurde die Differenz zu Kindern seines Alters“, sagte die Mutter, Psychologin und Leiterin der Selbsthilfegruppe für Eltern in Tübingen. Die Sprachentwicklung ihres Sohnes war verzögert, „in sozialen Situationen mit anderen Kindern ist er oft angeeckt und explodiert“. Sowohl für das Kind wie auch die Eltern war die Situation mehr als herausfordernd. Zumal die Suche nach Erklärungen und Therapie alles andere als einfach war.

„Als wir dann irgendwann endlich eine Diagnose hatten, waren wir sehr erleichtert“, so Löwen. „Wir wussten dann, dass wir nicht schuld waren.“ Allerdings hätten sich die Probleme mit dem Kind damit nicht erledigt. „Autisten haben weniger Filter im Kopf“, sagte Barth. „Wenn Situationen für sie zu komplex werden, ziehen sie sich in sich selbst zurück – oder sie rasten aus.“ Dass Betroffene keinen Kontakt (besonders keinen körperlichen) wollen, sei eines der berühmten Mythen, die über Autisten bestehen, sagte Croonenbroeck. „Sie wollen Kontakt, kriegen ihn aber nicht hin“, so Barth

„Autisten sind tolle Menschen, ich gratuliere Eltern meist zu ihrem ganz besonderen Kind“, sagte Gottfried Barth. Aber: „Es fehlt ganz viel an Wissen in der Bevölkerung, auch an Fachlichkeit in Kliniken“, betonte Uwe Seid von der Fachstelle für Inklusion der Stadt. Als Mitorganisator des Fachtags Autismus registrierte er einen unglaublichen Andrang auf den Fachtag. „Wir sind überrannt worden“, sagte Seid. Eigentlich sei die Veranstaltung im Rathaus geplant gewesen, 200 Anfragen seien jedoch viel zu viel gewesen, die Veranstaltung musste umziehen, doch auch dort gab es maximal 160 Plätze.

„Wir haben noch einen Life-Stream ermöglicht.“ Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren vor allem Fach- und Inklusionskräfte aus Kitas und Schulen, Kliniken, zudem Eltern und Betroffene. Und ganz viele Schulbegleiter. Sozialbürgermeisterin Gundula Schäfer-Vogel verwies mit Autismus auf „ein neues, schwieriges Handlungsfeld mit zahlreichen unsichtbaren Barrieren“.

Schulungen für Fachkräfte müssten angeboten werden, forderte der Fach-Journalist Croonenbroeck. Aber nicht allein mit Kindern im Fokus, denn: In zahlreichen Fällen werde die Diagnose „Autismus“ erst im Erwachsenenalter gestellt. „Bei der Integration in den Arbeitsmarkt gibt es sehr viele Hürden“, sagte Andreas Croonenbroeck. „Patienten sind Experten für sich selbst“, betonte Ruth Grass von der Fachstelle Autismus. Das unterstrich auch Croonenbroeck. „Es ist wichtig, mit den Mythen in der Öffentlichkeit aufzuräumen“, betonte der Journalist und Grafikdesigner. „Ziel des Fachtags war, die Innensicht von Autisten mit reinzubringen“, so Stefanie Tellini von der Fachstelle Inkusion.

„Autisten brauchen einen guten Reizschutz“, betonte Riedel. In Räumen sollte es nicht zu hell sein, zu laut, Aufgaben müssten klar und deutlich gestellt werden, „Autisten brauchen sehr klare Strukturen und klare Aussagen“, so der Arzt. Ironie, höfliche Umschreibungen, Smalltalk? Mit all dem könnten Autisten zumeist nichts anfangen. Oft gehe es um Reizüberflutung, um Filterschwäche. Besondere Gefühlswahrnehmungen und Körperempfindungen könnten laut Barth trainiert werden.

Im Übrigen werde der Begriff „Autisten“ mittlerweile oft als Schimpfwort gebraucht: Wenn abends in den Nachrichten Putin, Trump oder auch Scholz als Autisten bezeichnet würden, dann sei das „extrem abwertend und verletzend für Betroffene“, betonte Andreas Croonenbroeck.

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