Auftaktveranstaltung zum Brückenbau zwischen Gehörlosen und Hörenden unter dem Titel „Kultur sehen – Faszination Gebärdensprache“
In einigen Bildern von Uli Braig tauchen immer wieder Hände auf. In die Höhe, zum Himmel gestreckte Hände. Warum? „Ohne die Hände sind wir Gehörlose außen vor“, sagte der Künstler kurz vor der Auftaktveranstaltung „Kultur sehen – Faszination Gebärdensprache“ am Donnerstag dieser Woche im Kulturpark RT-Nord.
Wenn Menschen nicht hören können, leben sie in einer anderen Welt als die Hörenden und haben eine ganz andere Kultur entwickelt, eine Gehörlosenkultur, berichtete Assunta Sboza. Die Mitarbeiterin im Team für schwerhörige und gehörlose Menschen bei Habila ist selbst gehörlos – kennt deshalb die Belange, Bedürfnisse und Probleme der Betroffenen sehr genau. Und sie beherrscht die Gebärdensprache, die einst verboten war. Ulrich Braig hat das selbst erlebt, im Kindergarten und in die Schule. Heute ist er 77 Jahre, lebt im Rems-Murr-Kreis, hatte eine Berufsausbildung zur Dekorationsmalerei absolviert, verschiedene Fachschulen besucht und arbeitete als Meister für Werbetechnik. „Wer nichts hört, kann lernen, umso genauer hinzusehen“, betonte Braig.
Marion Rüdinger kennt sich als Mitarbeiterin der Paulinenpflege im Rems-Murr-Kreis ebenfalls mit den Schwierigkeiten von gehörlosen Menschen aus. Seit 15 Jahren ist sie für die Beratung von Gehörlosen zuständig, Betroffene in anderen Landkreisen zu beraten und passende Lösungen zu finden, sei enorm schwierig gewesen. „Wenn die Menschen in ihrem Landkreis wohnen bleiben wollten, mussten immer mühsam Einzellösungen gestrickt werden“, betont Rüdinger.
Durch eine Kooperation mit Beate Bäumer von der Habila GmbH und der Paulinenpflege ist es nun gelungen, ein Team von sechs Beschäftigten bei der „Assistenz im Wohn- und Sozialraum (AWS)“ zu gründen und die Lücke zu schließen. „Die Fachkräfte kennen den Alltag und die Kultur gehörloser Menschen“, so Rüdinger. Zum Teil, wie Sboza, sogar aus eigener Betroffenheit.
„Wir sind sehr froh über die Kooperation“, sagen sowohl Monika Deyle von der Unternehmensentwicklung der Paulinenpflege wie auch Roberto Ruggieri als Leiter Soziale Teilhabe und Pflege der Habila in den Landkreisen Reutlingen, Tübingen und Esslingen. Wichtig sei das Angebot auch deswegen, weil es „vielen hörbehinderten Menschen ermöglicht, kommunikative und bürokratische Barrieren im Alltag zu überwinden und ihr Leben mit Begleitung zu meistern“, so Marion Rüdinger.
Besonders schwierig werde das Leben für Gehörlose, wenn weitere Probleme auftauchen, sagte Rüdinger. Wie etwa bei der Erziehung von Kindern, bei Schulden, Demenz oder anderen Herausforderungen, die für Hörende schon beschwerlich genug sind. Ohne Gebärdendolmetscher können solche Hürden für Gehörlose nahezu unüberwindbar werden.
Dass Gehörlose eine ganz andere Kultur aufgebaut haben, sei nachvollziehbar, wenn man allein daran denkt, dass sie kein Konzert, keine Musikveranstaltung genießen können, keine Theatervorstellung – aus dem einfachen Grund, weil sie nichts hören. Dass es auch anders geht, haben am Donnerstag bei der Veranstaltung die vhs Sign Singers in einer begeisternden Vorstellung von „Singen mit den Händen“ gezeigt.
Einen Vortrag über das Leben als Gehörlose hatte Annette Bach gehalten – sie ist selbst gehörlos, hat zwei hörende Kinder und ist staatlich geprüfte Dozentin der deutschen Gebärdensprache. Wie auch Ulrich Braig hatte sie erlebt, dass im Kindergarten die Gebärdensprache verboten war. „Wir sollten Lippenlesen lernen.“
Dass sie nicht stumm ist, bewies Bach am Donnerstag in ihrem Vortrag: „Natürlich können Gehörlose sprechen.“ Nur eben anders. In einem weiteren Vortrag berichtete die Gebärdensprachdolmetscherin Rita Mohlau: Sie ist als CODA (child of deaf adults), als Kind gehörloser Eltern, aufgewachsen.
„Für diese Kinder ist die Gebärdensprache ihre Muttersprache“, sagte Mohlau. „Wir freuen uns sehr, dass bei der Veranstaltung heute rund die Hälfte der Besucherinnen und Besucher gehörlos und die Anderen hörend sind“, betonte Bäumer. „Es geht darum Brücken zwischen den beiden Welten zu bauen.“ Gefreut haben sich die Veranstalter von „Kultur sehen“ aber auch über die Förderung von Aktion Mensch.