Künstler Peter Barth berichtet über seine Installation „Ungesühnt – Verschwiegen – ein Heimatbild“ in Engstingen auf der Haid im Atelier 32
In der Installation von Peter Barth sind Menschen zu sehen, viele Menschen, alle in Häftlingskleidung. Sie scheinen die Betrachter anzuschauen. Zu sehen war diese Installation schon in Bergen-Belsen, momentan ist sie auf der Haid im Atelier 32. 170 Menschen blicken um Holzstämmchen herum auf die Betrachter.
Manche Abgebildete lächeln, schmunzeln, andere sind wohl traurig, sie blicken zweifelnd, anklagend? Wieder anderen steht das Grauen ins Gesicht geschrieben. Der Holzelfinger Künstler Barth hat in den Porträts, in der Installation festgehalten, was ihn seit seinem sechsten Lebensjahr verfolgt. Und ihn sein Leben lang beeinflusst hat.
Es war der 8. April 1945. In Celle in Niedersachsen fuhr ein Zug ein, darin befanden sich um die 3.400 Menschen, Zwangsarbeiter aus halb Europa. Der Zug kam aus den Konzentrationslagern Salzgitter-Drütte und Holzen, die Männer und Frauen sollten im KZ Bergen-Belsen, rund 30 Kilometer von Celle entfernt, ermordet werden. Doch dazu kam es nicht – amerikanische Flieger bombardierten den Güterbahnhof in Celle, um den Nachschub der Deutschen zu kappen. Dabei wurde der Zug getroffen, „versehentlich“, wie Barth sagt. Rund 500 Menschen starben sofort. Die meisten anderen versuchten zu fliehen, viele versteckten sich im Wald.
Die SS befahl am 9. April 1945 eine regelrechte Hetzjagd auf die Geflüchteten, daran beteiligt waren neben den SS-Leuten, Polizisten, Feuerwehrleute, aber auch Zivilisten. Peter Barth war damals als Sechsjähriger selbst vor Ort, er habe die Bomben gehört, sei einen Tag später mit seiner Mutter zum Güterbahnhof, weil sie dort Lebensmittel vermuteten. „Dann habe ich viele Tote gesehen, wunderte mich, dass sie in Schlafanzügen waren“, sagt Barth heute. Die Getöteten hatten gestreifte Sträflingskleidung an. „Meine Mutter hat gesagt: Guck da nicht hin.“ Zur gleichen Zeit war der Mob auf der Suche nach den Überlebenden. Mindestens 170 Zwangsarbeiter wurden dabei ermordet, weiß Barth.
In den folgenden Jahren lag darüber allerdings der Mantel des Schweigens. Noch heute aber sei das Unfassbare laut Barth unter dem Titel „Hasenjagd“ in Celle bekannt. „Ich war in der Folgezeit allen Erwachsenen in meiner Heimatstadt gegenüber misstrauisch, selbst in der eigenen Familie hätte ich allen alles zugetraut“, berichtet Peter Barth. Die damaligen Täter kamen mehr oder weniger ungestraft davon. Die Taten blieben „ungesühnt“.
Als Jugendlicher machte Barth eine handwerkliche Ausbildung zum Maler, erhielt ein Stipendium für eine Fachschule in Stuttgart, kam nach Schwaben, absolvierte eine Fortbildung, als Kunst am Bau gerade aufkam. „Das war für mich der Sprung in eine andere Welt.“
Als einer der ersten verweigerte Peter Barth den Wehrdienst, absolvierte den Zivildienst in einem Kinder- und Jugendheim und hatte neben der Kunst damit seine zweite Berufung gefunden: Er studierte in Reutlingen, wurde zunächst Grund- und Hauptschullehrer, dann Sonderpädagoge. 2000 ging er krankheitsbedingt in Pension, erholte sich aber wieder, brachte sich danach in die Förderschulen in Pfullingen und Hundersingen ein. Bei alledem war die Kunst sein steter Wegbegleiter.
Lange Zeit habe er überlegt, wie er das Thema des Massakers an den Zwangsarbeitern künstlerisch angehen könnte. „Ich habe mich aber nicht getraut.“ Sollte er zeichnen, malen, drucken? Schließlich kam Barth auf die Kunstform der Monotypie, „denn dabei entstehen wirkliche Unikate“, hatte der Kunsthistoriker Dr. Sebastian Borkhardt bei der Vernissage am 13. April ausgeführt.
170 „fiktive Porträts“ hat der heute 86jährige Barth geschaffen. Fiktiv deshalb, „weil wir ja nicht wissen, wie die Menschen ausgesehen haben“. Nichts sei von ihnen bekannt, nicht einmal die Namen. „Die Nazis haben alle Unterlagen vernichtet.“
Die Gräueltaten der damaligen Zeit dürfen nicht vergessen werden, betont Peter Barth. Das drückt er auch in seiner Installation aus. „Lethe“, der Fluss des Vergessens aus der griechischen Mythologie, droht alles in sich hinabzuziehen, zu ersticken, zu ertränken. Die Holzstangen vor den Porträts stehen für Gitter, Gefängnis, für die Flucht oder auch für die Zwangsarbeit – weil die Menschen ja nicht freiwillig in Deutschland waren.
Gerade in der heutigen Zeit, angesichts einer in Teilen rechtsradikalen Partei in den Parlamenten, bei gleichzeitiger Zustimmung von 20 Prozent AfD-Wählern, bei einem Rechtsruck in ganz Europa – gerade heute dürften die Gräuel von damals nicht vergessen werden. „Einen ‚Schlussstrich, den sich viele in Bezug auf die NS-Vergangenheit Deutschlands wünschen, kann und darf es nicht geben“, hatte Sebastian Borkhardt betont.
Die Ausstellung ist noch bis zum 11. Mai jeweils an Samstagen und Sonntagen zwischen 11 und 16 Uhr zu sehen. Peter Barth wird jeweils vor Ort sein. „Manches Mal gehe ich auch allein hierher und sitze zwischen diesen Porträts“, sagt er.