Gar nicht so einfach: Ruhig bleiben bei Anfeindungen im Netz – 2. Landkreis-Talk in Pfullingen

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Zweiter Landkreis-Talk im Pfullinger Kulturhaus Klosterkirche mit dem Thema „Worte wirken – über den Ton in unserer Gesellschaft“  

Aggressivität, Pöbeleien, Beleidigungen, gar Morddrohungen – ist das heute ein völlig normaler Umgangston im weltweiten Netz, auch gegenüber Amtsträgern? Schon, sagte Landrat Ulrich Fiedler am Mittwochabend im Pfullinger Kulturhaus Klosterkirche beim 2. Landkreis-Talk zu aktuellen Themen. Ein aktuelles Beispiel: Zur Suche nach einer neuen Klinikleitung hatte Fiedler eine Rückmeldung erhalten – er sei ein „verlogenes, fettes Individuum, dem man in die Fresse kotzen müsste“.

Solche widerlichen Auswüchse sind nach den Worten von Dr. Oliver Honer von der Meldestelle „Respect im Netz“ heutzutage fast schon normal. Im vergangenen Jahr habe er 32.500 Meldungen erhalten, „ein Drittel davon war strafrechtlich relevant“. Darunter waren laut Honer vor allem Kommentare von Rechts, Aufrufe zum Mord an Geflüchteten, viel Antisemitismus. All das habe ganz viel mit Angst zu tun, hatte Dominik Kuhn in seinem Kurzvortrag über „den Ton in unserer Gesellschaft“ erläutert. Im Zwischenhirn, das vor allem für Gefühle und Triebe zuständig sei, würden überlebenswichtige Informationen verarbeitet – dazu gehöre eben auch die Angst, die uns seit der Steinzeit vor die Wahl stelle, den Kampf mit dem Säbelzahntiger aufzunehmen oder zu flüchten, so Kuhn.

„Aber braucht man solch widerliche Statements wie im Netz zum Überleben“, fragte ARD-Moderatorin Ute Brucker an diesem Abend in Pfullingen vor rund 150 Zuhörern. „Ausländerhass hat viel mit Angst vor dem Fremden zu tun“, sagte Kuhn. Doch nicht nur im Netz sei der Ton deutlich rauer geworden, auch im Bundestag werde mehr gebrüllt, sagte Brucker. „Linke Spinner, Nazipartei, wir werden sie jagen“, seien nur ein paar der Zitate.

Ja, sagte Katja Schmidt, die seit 2021 als Rettungssanitäterin beim DRK tätig ist. „Selbst mit Patienten ist das ein relevantes Thema, alle fühlen sich, als müssten sie was dazu sagen“, sagte die junge Frau auf dem Podium im Pfullinger Kulturhaus. Auch sie selbst erlebe hin und wieder Anfeindungen bei Rettungseinsätzen – dass sie angemacht werde, wenn sie beim Einsatz bei Rot über eine Ampel fahre, eine Ausfahrt oder Parklücke blockiere. Menschen explodieren, „sobald sich jemand in der persönlichen Freiheit eingeschränkt fühlt“, so Schmidt. Bei Rettungseinsätzen ruhig und manchmal auch noch überfreundlich gegenüber pöbelnden Menschen zu bleiben, sei nicht ganz einfach.

Was laut Dominik Kuhn zugenommen hat, sei die Art der Reaktion: „Heute wird immer schneller, immer mehr gebrüllt, sobald sich jemand in der persönlichen Freiheit eingeschränkt fühlt.“ Dabei gebe es nicht immer mehr Idioten, aber die Idioten hätten jetzt eine Plattform (Kuhn gebrauchte einen anderen Fäkal-Ausdruck). Im Netz passiere im Übrigen genau das Gleiche, als ob man „Schokolade isst, säuft, raucht, Heroin nimmt oder Sex hat – es wird Dopamin ausgeschüttet“.

Den Like-Button zu drücken, das verschaffe ein gutes Gefühl und man fühle sich zugehörig zu einer vermeintlich riesigen Gruppe. Wenn diejenigen, die an die Erde als Scheibe glauben, im Netz Hunderttausende Gleichgesinnte finden, dann verschaffe das ein gutes Zugehörigkeitsgefühl. Doch was tun, gegen die Widerlichkeiten im Netz, gegen die Anfeindungen, gegen den miesen Ton? Bildung hoch 10, sagte Kuhn. „Die Welt ist kompliziert, Bildung macht den Kortex stärker, der für die Intelligenz zuständig ist“, so Dominik Kuhn.

Ute Brucker hatte ein Zitat von Rhetorik-Professor Olaf Kramer mitgebracht, der diesen Abend krankheitsbedingt absagen musste: „Man sollte sich nicht emotionalisieren lassen und auch mal die Perspektive wechseln.“ Das sei aber extrem schwierig, waren sich die Podiumsteilnehmer beim Landkreis-Talk einig. Hingegen „nicht so schnell reagieren, bevor wir antworten oder auf den Like-Button drücken“, sagte der Reutlinger Comedian ganz ernst.

„Man könnte auch die Funktionsweise der sozialen Medien anpassen, damit die Reaktionszeit verzögert würde“, sagte Honer. Daran hätten die Betreiber der Sozialen Medien jedoch keinerlei Interesse, entgegnete Kuhn. Plattformen wie X oder Tiktok zu verlassen, sei auch nur bedingt eine Lösung – weil damit „den Brüllenden das Feld überlassen wird“.  Oliver Honer sagte: „Man sollte sich nicht emotionalisieren lassen.“ Die eine Antwort oder Lösung gebe es jedoch nicht. „Das Fazit heißt somit wohl: Ruhig bleiben, egal, ob im Rettungswagen oder im Netz“, sagte die ARD-Moderatorin.

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