„Eintreten für die Grundwerte des Menschseins“ – Reutlinger Gedenkfeier zum 27. Januar

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Gedenkfeier zur Erinnerung an die Befreiung des KZ Auschwitz und an die Opfer des Nationalsozialismus im Reutlinger Theater Tonne

„Die Schülerinnen und Schüler nehmen uns Erwachsene mit, sie rütteln uns auf, geben uns einen Zugang über das Herz zu den Reutlinger Opfern von damals“, sagte Pfarrerin Katrin Zürn-Steffens am Montagabend bei der Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau im Reutlinger Theater „Tonne“.

Kinder aus den fünften bis siebten Klassen der Theater-AG des Friedrich-List-Gymnasiums hatten Szenen aus dem Leben von drei Persönlichkeiten dargestellt: Iwan Ischtschuk etwa, der zusammen mit seiner Familie aus Kramatorsk (in der heutigen Ost-Ukraine) von Deutschen nach Reutlingen verschleppt wurde. Die Eltern mussten im Reichsbahnlager am Reutlinger Bahnhof Zwangsarbeit leisten. Bei einem Luftangriff, versteckten sich der damals achtjährige Iwan und seine Brüder zusammen mit der Mutter in einem 1,10 Meter kleinen Kanalrohr. Iwan und seine Mutter wurden gerettet, die beiden Brüder waren an dem Rauch erstickt.

Eine weitere Theater-Szene beschrieb das Leben des Friedrich Laage, der mit zwei Jahren eine Hirnhautentzündung erlitt. Im Alter von 35 Jahren wurde er in Grafeneck im Rahmen der Aktion T4 vergast. Die Schüler zeigten Bilder und Schriften von Laage, die er aus der Anstalt in Stetten an seine Familie geschickt hatte.

Das dritte Porträt befasste sich mit Fritz Wandel: Als Gewerkschafter und KPD-Mitglied war er nicht nur Mitglied der Reutlinger Arbeiterbewegung, sondern auch einer der Anführer des Mössinger Generalstreiks. Von der Gestapo wurde er 1937 im KZ Dachau interniert und erst 1945 befreit. In seinem Bericht „Ein Weg durch die Hölle – Dachau, wie es wirklich war“ beschrieb er seinen Kampf gegen den Faschismus.

Bewegend, berührend, erschütternd waren die Aufführungen der Theater-AG. „Aus Geschichte zu lernen, bedeutet, aus Geschichten zu lernen“, hatte Tonne-Intendant Enrico Urbanek zu Beginn der Gedenkveranstaltung in der „Tonne“ hervorgehoben. In Bezug auf den heutigen Rechtsruck in der Gesellschaft sagte er: „Die Zeit ist aus den Fugen geraten – aber lassen wir uns nicht für dumm verkaufen, hören wir nicht auf, den gesunden Menschenverstand zu nutzen“, forderte Urbanek. „Wenn aus Demokratien Diktaturen werden, dann ist es zu spät.“

Zwölf Initiativen standen hinter der Veranstaltung in der Tonne. Den 27. Januar hatte Bundespräsident Roman Herzog 1996 als Gedenktag für die Befreiung des KZ Auschwitz eingeführt, wie Reutlingens OB Thomas Keck betonte. „Wir gedenken heute aller Opfergruppen“, sagte Christian Lawan. Und das waren viele, ungeheuer viele. Insgesamt mehr als 60 Millionen Menschen starben während des Zweiten Weltkriegs und unter der Herrschaft der nationalsozialistischen Diktatur.

„Kaum zu begreifende Zahlen“ seien die 28 Millionen Tote in der Sowjetunion, 6 Millionen Opfer aus Polen, 6 Millionen Deutsche, 8 Millionen Menschen waren in Konzentrationslagern ermordet worden, wie Lawan als Mitorganisator des diesjährigen Gedenktages in der Tonne ausführte.

Töne des Schreckens und des Grauens fabrizierten daraufhin Fried Dähn und Thomas Mao am (E-)Cello und an der E-Gitarre. Zuvor hatte Keck „das tolle Potenzial der Schüler“ am List-Gymnasium gelobt, er forderte aber auch auf, „Menschenverachtung und Rassismus dürfen nicht die Oberhand erhalten“.

Auschwitz sei nach den Worten von Lawan „zu einem Symbol der Verfolgung, der totalen Entrechtung, von Terror und Mord geworden“. Verfolgt wurden unter dem Zeichen des Hakenkreuzes jüdische Mitmenschen, Sozialdemokraten, Kommunisten, Berufsverbrecher, Immigranten, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Asoziale, Sinti und Roma, Menschen aus Osteuropa und Menschen mit Handicap. Alle erhielten in den Konzentrationslagern unterschiedliche Wimpel, farbige Dreiecke – rote, gelbe, blaue, braune. Zur einfacheren Unterscheidbarkeit. Deutsche Gründlichkeit.

Während Aktive der Gedenkveranstaltung auf die verschiedenen Opfergruppen wiesen, unterbrach Clemens Dietz mehrfach mit den Worten „Wir setzen uns ein“, das Publikum ergänzte „für eine gerechte, friedliche und tolerante Welt“. Der Leiter der katholischen Dekanatsgeschäftsstelle mahnte abschließend die annähernd 300 Gäste „zu Wachsamkeit und Zivilcourage – wir alle müssen eintreten für die Grundwerte des Menschseins“.

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