Förderverein für jüdische Kultur in Tübingen hatte mit der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus geladen
„Das Gedenken an die Shoah an diesem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ist schwierig geworden“, betonte Dr. Gundula Schäfer-Vogel am gestrigen Sonntag auf dem jüdischen Friedhof bei Wankheim. Während der Verkehrslärm der allzu nahen Bundesstraße vorbeitobte, mahnte Tübingens Kulturbürgermeisterin: „Auschwitz ist zur Chiffre geworden – für die Shoah, für die Verbrechen des Nationalsozialismus, aber auch abstrakter für das, was Menschen anderen Menschen antun können, für menschliche Abgründe, für Exzesse der Gewalt und der Grausamkeit.“
Die Befreiung des KZ Auschwitz jährt sich nach den Worten von Werner Kemmler, dem Vorsitzenden des Fördervereins für jüdische Kultur in Tübingen, dieses Jahr zum 80. Mal. Mehr als 6 Millionen Juden wurden damals von den Nationalsozialisten ermordet, „Gedenktage wie diese eignen sich zum Innehalten, aber auch, um der generellen Frage nachzugehen, in was für einem Land wir leben wollen“, so Kemmler. In einem Staat, in dem Menschen nach dem materiellen Wert bemessen werden, nach der Religion, der sexuellen Orientierung, der Hautfarbe oder der Religion?
Rabbiner Mark Pavlovsky aus Esslingen erinnerte an den 7. Oktober 2023, als Terroristen der Hamas rund 1.200 Israelis getötet und etwa 250 Menschen verschleppt hatten. „Das Böse in der Welt kann nur besiegt werden, wenn wir gemeinsam Gedenktage begehen – es liegt an uns, wie eine Gesellschaft künftig aussehen wird“, betonte der Rabbi.
Opfer der „quasi-industriellen Tötung von Menschen hatte monströse Ausmaße angenommen“, betonte Schäfer-Vogel in ihrer Rede. Darunter fanden sich auch einige aus Tübingen: Elfriede Spiro etwa, die schwer erkrankt deportiert wurde, die Ankunft in Auschwitz kaum überlebte.
Dr. Erich Dessauer, ein angesehener Anwalt. Philippine Reinauer, die mit über 80 Jahren aus der Pflegeanstalt nach Auschwitz verbracht und ermordet wurde. Allerdings sei nach den Worten der Bürgermeisterin nicht nur in Auschwitz gemordet worden. In vielen namenlose Orten in den Wäldern von Belarus oder nach Riga sind viele Jüdinnen und Juden aus Tübingen verschleppt und eiskalt ermordet worden.
Die achtjährig Ruth Marx etwa, die nichts anderes kannte als Verfolgung und Verschleppung. Zusammen mit ihrer Mutter wurde sie in Riga erschossen, ebenso Paula Hirsch mit ihrem Sohn Erich, so die Bürgermeisterin. Aber: Selbst diejenigen, die die Shoah überlebten, „blieben seelisch und körperlich versehrt zurück, waren heimatlos geworden, nach Auslöschung ihrer Familien allein, sie hatten jede Zuversicht und all ihre Träume verloren“, sagte Schäfer-Vogel.
Doch es gab laut Schäfer-Vogel in Tübingen auch viele Täter: OB Ernst Weinmann etwa, der als „Henker von Belgrad“ gefürchtet war und dort die Deportation der jüdischen Bevölkerung in die NS-Todesfabriken organisierte. Oder Gertrud Scholtz-Klink, sie war „Reichsfrauenführerin“, fand nach dem Krieg Unterschlupf in Bebenhausen.
„So viel Leid, so viel Schuld“, sagte Schäfer-Vogel. Verkomme das Erinnern an diesem Gedenktag nicht zu „Sonntagsreden“? „Der 27. Januar als Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, als Gedenktag an die Shoah, überfordert uns.“ Dennoch sei das Erinnern unabdingbar notwendig. „Wir müssen das Andenken an die Opfer lebendig halten, wir dürfen nicht vergessen, dass wir aus einer Tätergesellschaft kommen“, sagte Gundula Schäfer-Vogel.
„Wir müssen das Gedenken fruchtbar machen für unser Zusammenleben“, mahnte die Bürgermeisterin. „Wir müssen unsere offene Gesellschaft verteidigen, kämpferisch, lebensbejahend – auch, wenn wir uns damit unbeliebt machen.“