Themenabend in der Reutlinger Vesperkirche zu „Armut macht krank, Krankheit macht arm“
Arme Menschen werden öfter krank. „Menschen mit geringer Bildung, niedrigem Einkommen und Berufsstatus unterliegen einem zwei- bis dreifach erhöhten Risiko, an Diabetes oder Krebs zu erkranken, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu bekommen“, schreibt das Robert-Koch-Institut.
„Und arme Menschen haben eine deutlich geringere Lebenserwartung als reichere – Frauen mit wenig Geld sterben etwa vier Jahre früher als die mit mehr Geld, Männer sogar rund acht Jahre früher“, sagte Moderator Dr. Joachim Rückle am Montag beim Themenabend in der Reutlinger Vesperkirche.
Ist dieser Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit einfach Schicksal? Sind Krankheit und Armut wie Pest und Cholera, wie siamesische Zwillinge, wie Blitz und Donner, wie das Publikum in der Nikolaikirche meinte? Experten in eigener Sache waren am Montagabend vor Ort, zwei Frauen berichteten dazu aus ihrem Leben.
Andrea F. sagte, dass sie zwischen 2013 und 2017 insgesamt 27 Operationen über sich ergehen lassen musste. Im August 2024 ereilte sie die Nachricht, dass ihre Nieren nun völlig versagen – eine arbeitet noch zu 34 Prozent, die andere schafft nur noch 10 Prozent. Sie war alleinerziehend, ein Achtstundentag sei nun eh nicht mehr möglich. Nun arbeitet sie mit einem Zwei-Euro-Job in der Reutlinger Tafel. Dialyse lehnt sie ab. „Ich will jetzt leben, die Nebenwirkungen sind mir zu heftig.“
Esther L. war Tennis-Leistungssportlerin, hatte ihre erste Psychose während des Studiums. 15 Jahre arbeitete sie in der freien Wirtschaft, irgendwann hat sie die Psychopharmaka ausgeschlichen. „Seit 2018 erhalte ich Erwerbsminderungsrente.“ Sie wohne im ambulant betreuten Wohnen, gebe Nachhilfeunterricht und auch Tennisstunden. Mit dem wenigen Geld komme sie einigermaßen zurecht. „Aber wir haben ein ganz gutes Gesundheitssystem“, lobte L.
Andrea Meyle ist Sozialarbeiterin beim Diakonieverband im Bereich „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EuTb)“. Ihre Erfahrungen: Viele der Ratsuchenden würden Krankengeld und aufstockend Bürgergeld erhalten. „Bei der Diagnose einer schweren Krankheit fällt viel Unbeschwertheit weg“, so Meyle. Und das gleich für das ganze Familiensystem, sobald jemand in der Familie schwer erkrankt.
Reutlinger Gemeinderatsmitglied Kurt Gugel berichtete aus seiner 32jährigen Erfahrung als Hausarzt: Armut erkenne man oft am Gebiss der Menschen. Doch gerade bei vielen älteren Frauen habe der Arzt erst erfahren, dass sie arm sind, als sie sich etwa die Zuzahlung zu einer Reha nicht leisten konnten. Noch schlimmer: „Manche Patienten lösen Rezepte nicht ein, weil sie sich die Zuzahlung nicht leisten können.“ Zwar könne man sich bei den Krankenkassen von den Zuzahlungen befreien lassen, doch mancher Patient schäme sich.
Was tun gegen diese Missstände, frage Rückle in das Publikum. Höheres Bürgergeld, so eine Antwort. Bildung verbessern, Jobpaten, zuhören, Menschen begleiten, Nachbarschaftshilfe. Der ehemalige Leiter der Reutlinger Kliniken, Friedemann Salzer, betonte als letzter Gast: „Wir brauchen mehr solche Primärversorgungszentren wie in Hohenstein.“ Salzer selbst war dort bis vor kurzem Projektkoordinator.
An diesem Zentrum gebe es eine Gesundheitsfachkraft („Community Health Nurse“), die Menschen nicht nur in Fragen der Gesundheit begleite, sondern auch bei Behördengängen, die sich in die Politik vor Ort einmische, viel Zeit in Prävention stecke.
Außerdem sollte in Deutschland die riesige Zahl der Krankenkassen abgeschafft werden. „In Skandinavien wird das Gesundheitssystem steuerfinanziert.“ Aber: Es gebe in Deutschland tatsächlich zu viele Krankenhäuser, so Salzer. „Es geht nicht, dass jedes Krankenhaus alles macht.“
Abschließend spielte Pianist Victor Miller ein paar weitere beschwingte Takte, bevor Friedemann Salzer hervorhob: „Es ist ein Armutszeugnis, dass es solche Einrichtungen wie Vesperkirche und Tafelläden gibt – da versagt der Sozialstaat.“
INFO:
Armenarzt Gerhard Trabert musste absagen
Eigentlich wäre Gerhard Trabert, der Mainzer Arzt, Armen- und Sozialmediziner, Linken-Kandidat für die Bundespräsidentenwahl 2022, am Montagabend in die Reutlinger Vesperkirche gekommen. „Doch er hatte mehrere Herzinfarkte und musste leider absagen“, so Dr. Joachim Rückle als Geschäftsführer des Reutlinger Diakonieverbands.