Diese Gedenkveranstaltung sollte dazu dienen, um „aus der Geschichte zu lernen und an das Versprechen von 1945 zu erinnern – nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“, hatte Karl Grüner am vergangenen Dienstagabend, 3. Dezember 2024, im franz.K betont.
Um genau das zu tun, aus der Geschichte zu lernen, befasste sich dieser Abend mit der Widerstandsgruppe Schlotterbeck, die am 30. November 1944 ermordet wurde. Vier der insgesamt zwölf Ermordeten stammten aus Reutlingen. Genauso wie ein Täter, der Gestapo-Mann Alfred Hagenlocher. Der wurde aber nach dem Ende der Nazi-Diktatur nicht etwa zur Verantwortung gezogen. Im Gegenteil: Als Kunstexperte machte er Karriere, mit der Krönung der Verleihung der Staufermedaille im Jahr 1994 von Ministerpräsident Erwin Teufel, so Grüner.
„Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne.“ So lautet die Überschrift über die Erinnerungen von Friedrich Schlotterbeck, dem einzigen Familienmitglied, das die Zeit des Nationalsozialismus überlebte. 1909 wurde Frieder in Reutlingen geboren. Sein Vater Gotthilf kam in Bempflingen zur Welt, dessen Frau Maria in Oferdingen. Gotthilf war Mechaniker – und Arbeiterführer. Damit stand er auf der roten Liste, war bei den Reutlinger Firmen also nicht gern gesehen. Dennoch hatte Gotthilf bei den großen Unternehmen Wagner, Stoll und auch Gustav Werners Bruderhaus gearbeitet, wenn auch jeweils nur kurz. 1911 ging die Familie mit den beiden Kindern Gertrud und Friedrich nach Esslingen. Und dann schließlich in die Stuttgarter Arbeitersiedlung Luginsland, wie Michael Horlacher berichtete. Eindeutig kommunistisch orientiert war die Familie den Nazis ein Dorn im Auge.
Michael Horlacher berichtete im franz.K über die Familie Schlotterbeck.
Friedrich absolvierte eine Tischlerlehre, machte Karriere bei der KPD, wurde nach Moskau zur Schulung geschickt, kam in halb Europa herum. In Deutschland wurde er jedoch 1933 bei einer Kontrolle verhaftet. In seinen Erinnerungen berichtete Frieder Schlotterbeck von „den Stationen zur Hölle ab 1933“, so Horlacher. Doch nicht nur Schlotterbeck allein, die ganze Familie wurde schwerst misshandelt, gefoltert, auch der erst 14jährige Hermann, der 1919 geboren wurde.
Von 1937 bis 1943 kam Frieder „in Schutzhaft ins KZ Welzheim“. Unter Auflagen wurde er dann entlassen, 1944 floh er in letzter Minute in die Schweiz. Eugen Nesper, ein mehrfach umgedrehter Spion, der vermeintlich ein Kumpel der Widerstandsgruppe war, wurde von den Russen genauso benutzt wie von den Nazis. Als Chamäleon bezeichnete Horlacher Nesper, der Doppelagent hatte die Gruppe im Mai 1944 verraten. Nur Frieder gelang die Flucht. In Zürich fand er Unterschlupf, im Juni 1945 kam er zurück in die völlig zerbombten Städte Ulm und Stuttgart. Sein Elternhaus war verschont geblieben – doch erst dort erfuhr Frieder, dass seine gesamte Familie ermordet worden war.
All diese schrecklichen Ereignisse hatte Frieder Schlotterbeck in seinen Erinnerungen festgehalten. Der Schauspieler und Regisseur Christoph Hofrichter las am Dienstagabend daraus vor, über die extrem brutale „Befragung“ im Polizeigefängnis, über Misshandlungen und Folter. Hofrichter las über die Flucht und im letzten Kapitel über die Heimkehr zurück nach Stuttgart. Ein grausames, aufrüttelndes und auch widerliches Stück Zeitgeschichte, das eindrücklich aufzeigt, wie unmenschlich diese Diktatur mit seinen vermeintlichen Gegnern umging.
Trotz des erduldeten Unrechts war Friedrich Schlotterbeck nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nicht gern gesehen, als Kommunist ging er 1948 in die DDR. Doch auch dort war er nicht willkommen, wurde als vermeintlicher Nazi-Spitzel drei Jahre ins Gefängnis gesteckt, 1956 aber schließlich rehabilitiert. Zusammen mit seiner Frau Anna lebte er schließlich in Ost-Berlin als Schriftsteller, sie waren mit Christa Wolf befreundet, so Horlacher. Frieder starb 1979, sieben Jahre nach seiner Frau.
Christoph Hofrichter sang zu den verlesenen Erinnerungen von und an Frieder Schlotterbeck zumeist Arbeiterlieder wie „Rote Matrosen“, „Die junge Garde des Proletariats“ und andere. Weitere Informationen zu der Widerstandsgruppe Schlotterbeck gibt es im GEA-Artikel unter https://www.gea.de/reutlingen_artikel,-mutige-menschen-mit-reutlinger-wurzeln-_arid,6974611.html
Die „Krönung“ des Abends war schließlich ein Gespräch mit einem Mann, zu dem wir uns vor kurz vor dem Start der Veranstaltung gesetzt hatten. In den Minuten vor dem Start bis zur Pause vermied er jeglichen Kontakt zu uns, erst dann kamen wir ins Gespräch. Er stellte sich als AfD-Wähler vor, der „nach allen Seiten offen“ sei. Aber er habe Probleme mit seiner Familie, vier seiner Geschwister würden nicht nachvollziehen können, warum er AfD-Anhänger sei. Sein Bruder habe ihn zu der Veranstaltung an diesem Abend geschickt. Wir lobten ihn für seine Offenheit. Dann versuchter der Mann (der uns seinen Namen nicht genannt hatte) allerdings uns zu überzeugen, wie offen und wählbar die AfD doch sei. Dass man doch keine „Brandmauer“ gegenüber einer demokratisch gewählten Partei errichten könne – und dass die Faschismus-Vorwürfe gegenüber Höcke und Co. doch alle falsch seien. Wir waren ziemlich fassungslos, dass während der gesamten Veranstaltung neben uns ein Wolf im Schafspelz saß. Ein Mensch, der sich selbst – wie von AfD’lern gewohnt – als Opfer darstellte, der die Verrohung der Sprache und des Diskurses in Land- und Bundestag durch die AfD als informierter Bürger nicht wahrnehme. Abschaffung der Atomkraftwerke wie auch des Verbrennermotors seien natürlich gravierende Fehler der „etablierten Parteien“ gewesen, sagte er. Der Klimawandel? Ja, gebe es, aber Deutschland als alleiniger Retter der ganzen Welt? Und natürlich würden die Migranten und Flüchtlinge die deutschen Sozialsysteme belasten. „Deutschland ist zur sozialen Hängematte der ganzen Welt geworden.“ Was für ein riesengroßer, unglaublicher und absoluter Bullshit. Dass es tatsächlich intelligente Menschen gibt, die so einen Mist glauben. Oder glauben wollen. Aber die Tatsache ist: Auch im Westen der Republik kratzt die AfD an der 20-Prozentmarke. Die Frage auch und gerade nach solch einer Gedenkveranstaltung ist offensichtlich: Wo soll das hinführen? Und das auch noch nach dem Erlebnis am gleichen Tag im Landgericht mit dem 80jährigen Reutlinger Ex-Richter, der ebenfalls die AfD zu seiner Lieblingspartei erkoren hat. Und die Grünen zu seinem Lieblingsfeind, dass der Mann zu dem Ergebnis kommt, er müsse ständig seine Meinung im Internet herumkrakeelen. Und dabei Habeck, Baerbock und Co stetig wüst zu beleidigen.