Gottesdienst an der Gedenkstätte Grafeneck zur Erinnerung der Opfer der Euthanasie der Nationalsozialisten im Jahr 1940
Einmal mehr ein Gedenkgottesdienst in Grafeneck, also an jenem Ort, an dem vor mittlerweile 84 Jahren mehr als 10.650 Menschen ermordet wurden. „Wer erinnert, der vergegenwärtigt“, sagte Wolfgang Bleher als Vorstandsmitglied der Samariterstiftung am gestrigen Sonntag in seinen einleitenden Worten zu dieser Erinnerungsveranstaltung. „Wer erinnert, der verhindert das Vergessen“, so Bleher.
Ob denn dieses Erinnern überhaupt noch Sinn mache, heute, mehr als acht Jahrzehnte nach diesem unbeschreiblich grausamen Morden an so vielen Menschen? Diese Frage stellte Martin Breitling als Pfarrer aus Kohlstetten in seiner Predigt. Mit seinen Konfirmandinnen und Konfirmanden gehe er jedes Jahr wieder nach Grafeneck. „Warum“, fragte Breitling gestern rhetorisch in die Gruppe der Besucher.
Bei den Besuchen mit seinen Konfirmanden gehe es vor allem um eines: „Alle Menschen sind Kinder Gottes – wirklich alle?“ Das frage er die Jugendlichen immer wieder. Die Antwort der Konfirmanden sei stets eindeutig. „Ja, alle.“ Und diese Frage sei heute so aktuell wie damals, denn: „Die Ehrfurcht vor dem Leben geht auch heute wieder verloren“, so der Pfarrer. Warum?
Weil weltweit Kriege geführt, weil an Europas Grenzen „Pushbacks“ vorgenommen werden. Weil auch heute Menschen ohne jede Ehrfurcht vor dem Leben misshandelt, gefoltert, ermordet werden. Ob sich Ehrfurcht üben, lernen lässt, fragte Breitling. „Haben wir denn die Zeit dazu?“ Der Pfarrer erinnerte an drei Namen, drei Menschen, die einst in Kohlstetten lebten und 1940 in Grafeneck ermordet wurden.
Christian Failenschmid. Anna Frick. Christian Schnitzer. „Zu jedem von ihnen gehörte eine Geschichte, voller Trauer, Wut, Glück und Unglück.“ Die drei Menschen wurden in Grafeneck ermordet. An sie zu erinnern, an ihre Geschichte, „ihre Namen zu nennen, bedeutet, Ehrfurcht zu üben“, sagte Martin Breitling.
Ob denn die alten Texte aus der Bibel heute aus der Zeit gefallen seien? „Oder sind sie heute aktueller denn je“, fragte Breitling. „Die Gedenkstätte ist ein Wegweiser in die Zukunft“, so seine Antwort. Dass die Erinnerung an die schändlichen, unbeschreiblichen, unmenschlichen Taten der Nationalsozialisten dringender denn je ist, hob auch Thomas Stöckle als Historiker der Gedenkstätte hervor.
Im vergangenen Jahr waren nicht nur 450 Gruppen sowie sage und schreibe mehr als 40.000 Besucher nach Grafeneck gekommen. Im vergangenen Jahr hätten auch zwei Anzeigen erstattet werden müssen: In Grafeneck, an diesem ganz besonderen Ort des Erinnerns an schrecklichste Taten der Nationalsozialisten waren ein Hakenkreuz und ein Hitlergruß gezeigt worden.
Dennoch: Eine Aktion, die Hoffnung macht, hatten Ehren- und Hauptamtliche der Gedenkstätte und des Samariterstifts Grafeneck in den zurückliegenden Monaten begonnen: Die Gruppe hatte sich überlegt, wie die Regale, in denen die 10.654 Figuren des Künstlers Jochen Meyder lagen, wieder gefüllt werden könnten.
Die Idee wurde geboren, dass Besucher der Gedenkstätte etwas in Grafeneck lassen könnten. Steine, die sie bunt anmalen oder beschriften. Während des Gedenkgottesdienstes wurden Steine und Stifte verteilt, die Steine werden in den Regalen ihren Platz finden. „Eine wirklich tolle Idee“, lobte Markus Mörike als Leiter des Samariterstifts Grafeneck.
In den Fürbitten bei diesem Gedenkgottesdienst sagte Mörike: „Wieder sind wir heute sprachlos über das, was einst in Grafeneck geschah.“ Dabei würden auch heute Kriege das Weltgeschehen beherrschen, in der Ukraine. Im Nahen Osten, im Sudan und an anderen Orten der Welt, wo Menschen andere Menschen ermorden. Mörike bat um Frieden, um Wege aus dem Hass heraus. Das sei heute so notwendig wie damals.