Toskana-Gedanken an einem faulen Tag – 36. Woche

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Wir sitzen hier in Podere l’Aquila, mitten in der Toskana, Luftlinie rund 20 Kilometer von Siena entfernt. Herrliche Landschaft, Hügel reihen sich an Hügel, Täler an Täler.

Wir befinden uns auf – oder zumindest am Hang – eines solchen Hügels. Der Weg hierher ist abenteuerlich, von der italienischen Autobahn geht es auf italienische Landstraßen, dann auf noch schmalere Ortsverbindungsstraßen mit einigen Schlaglöchern. Das Beste kommt dann rund 1,5 Kilometer vor dem Anwesen – Schotter geht dann über in eine Schlaglochpiste, mit der Gefahr, immer mal wieder aufzusitzen. Vor allem mit einem vollgepackten Auto. „Für Tiefergelegte ist das nichts hier“, sagte Assunta Tudisco, unsere Wohnungsgeberin.

Der Ausblick von „unserer“ Terrasse ist berauschend. Eben jene Hügel und Täler reihen sich aneinander, mindestens sieben Hügelketten zähle ich bis zum Horizont. Fast wie bei der Schwäbischen Alb. Allerdings noch ein bisschen spektakulärer. Nach unserer Wanderung hügelauf und hügelab am Montag und gestern den Tag in Arezzo, haben wir – oder habe ich – beschlossen, heute hier zu „relaxen, einfach nur zu chillen, nichts zu tun“, wie ich es wenig romantisch ausdrückte. Was ich als Erstes getan habe: Emails beantworten, Termine vereinbaren, kurze Texte schreiben, Emails versenden – fast wie zuhause. So hatte ich mir den Tag nicht vorgestellt. Doch dann: Ich habe die nächste Story für meine Homepage fertiggebastelt. Und plötzlich sah ich einen Tausendfüßler auf der Fußmatte vor unserer Eingangstür. War es der, den Luka gestern Nacht in seinem Zimmer gefunden und in die Natur befördert hatte? Vielleicht war es derselbige, vielleicht aber auch ein Artgenosse. Aber: Warum zog dieser Wurm mit den so vielen Füßen so zielstrebig und gar nicht langsam über die Fußmatte ganz genau in Richtung unserer Wohnung? Hatte sein Kumpel ihm verraten: „Hey du, da, in diesem Gebäude, da gibt es … aber was fasziniert Tausendfüßler eigentlich? Ein Tausendfüßlerweibchen, das Tausendfüßlermännchen anlockt? Oder irgendwelche Leckerlis? Was zum Himmel fressen Tausendfüßler? Wir haben uns der Fragen enthoben und diesen ganz spezifischen Vertreter seiner Gattung zurück in die Natur befördert.

Wenig später wandert ein metallicgrüner kleiner putziger Käfer mit roter Halskrause auf dem Rand von Bines Kaffeetasse immer im Kreis herum. Warum tut er das? Wie ist er überhaupt da raufgekommen? Wir haben es nicht gesehen. Offensichtlich aber traut er sich nicht mehr hinunter. Offensichtlich kapiert er aber auch nicht, dass er immer im Kreis herumläuft. Armes Tier. Völlig desorientiert. Aber vielleicht geht es uns ja genauso? Vielleicht laufen wir auch immer im Kreis herum, wissen es nur nicht. Mühen uns ab, kommen immer wieder an der gleichen Stelle am Kaffeelöffel vorbei, der in der Tasse steht, quetschen uns dran vorbei und – denken jedes Mal voller Angst vor dem Absturz: „Das ist aber eng hier.“ Und wissen trotzdem nicht, dass es immer der gleiche Kaffeelöffel ist. Ach ja. Letztendlich habe ich dem Käferchen meinen Finger geboten, damit er von dem Tassenrand wieder herunterkam. Sonst würde er bestimmt jetzt immer noch laufen. Und irgendwann entkräftet abstürzen. Entweder in den Rest Kaffee hinein und dann elendiglich ersaufen. Oder auf dem Tisch landen. Und sich dann wundern, dass die Welt aus noch mehr als einem Kaffeetassenrand besteht. Wobei er ja gar nicht wusste, dass er auf einer Kaffeetasse seine Runden drehte. Oder gibt es für so kleine Käfer auch Cafés, wo sie aus minikleinen Tässchen ihren Cappuccino schlürfen können? Weil wir doch hier in Italien sind und italienische Käfer … Vielleicht war der metallicgrüne Käfer aber auch ein Migrant, der gar keinen Cappuccino kennt? Fragen über Fragen. Doch genug der Blödelei.

Ich habe dann ein wenig gelesen. Die ZEIT. Sonderseiten über den Krieg in der Ukraine. Den wir schon fast vergessen haben. Ukrainische Künstler und Schriftsteller berichten aus dem Krieg. Wie auch Sofia Andruchowytsch: In einem Bus in den Westen (oder zurück) erfährt sie von anderen „Mitreisenden“ über die unterschiedlichsten Schicksale. „Eine Frau aus Charkiw erzählt von ihrem 18jährigen Neffen, der in Polen studiert hat und nun freiwillig zur Armee gegangen ist. Mit eigenen Händen habe er die Körperteile seiner Freunde eingesammelt. Die Jungs hätten – wie er sagte – nicht einmal mehr Gesichter gehabt. Eine andere Frau fährt in den Westen, aber es zieht sie in den Osten, in das Dorf bei Tschernihiw, in dem ihre beiden Söhne umgekommen sind. Die Frau will noch einmal mit Menschen sprechen, die ihre Söhne lebendig gesehen haben, so wie sie vor ihrem Tod waren.“

Ich lese diese Zeilen und frage mich, hier in der Toskana: Was gibt mir das Recht, hier auf diesem Hügel zu sitzen, in dieser traumhaften Landschaft, und einfach nur den Urlaub zu genießen? Während andere Menschen auf der Welt im Krieg sind, verhungern oder wie in Pakistan drei Millionen Menschen, deren Hab und Gut davongespült wurde, Menschen, die alles verloren haben. Darf ich hier in der Sonne sitzen, den Pool nur ein paar Meter entfernt, und es mir gut gehen lassen? Na klar, was würde es ändern, wenn ich keinen Urlaub machen würde? Wenn ich nach Hause führe, die Arbeit sofort wieder aufnähme? Ich glaube, es ist nach dem Urlaub an der Zeit, mich mehr für Flüchtlinge einzusetzen. Mich dafür einzubringen, dass es Menschen, die alles verloren haben, hier zumindest ein klein wenig Heimat finden. Eine Bleibe, wo sie nicht vom Krieg bedroht sind. Wo sie vielleicht arbeiten können. Wo sie ihre Gedanken an zuhause zumindest in Sicherheit erleben können.

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